Lilly absolviert bei der Landhebamme Mrs. Mansfield eine Ausbildung zur
Hebamme. In ihrem dritten Lehrjahr hat sich die Sechzehnjährige zu einer
umsichtigen, fürsorglichen Geburtshelferin entwickelt, über deren
Unterstützung Mrs. Mansfield inzwischen sehr froh ist. Doch in Wickham in der
englischen Grafschaft Derbyshire ist Unruhe unter den werdenden Müttern
entstanden, seit ein neuer Arzt recht aggressiv mit seinen modernen
Entbindungsmethoden wirbt. Die Minenarbeiter des Ortes versprechen sich von Dr.
Harlan und seinen Geburtshilfe-Instrumenten eine Verkürzung des Geburtsvorgangs
und hoffen darauf, dass ihre Frauen nach einer verkürzten Geburt schneller
wieder ihre übliche Arbeit in Haus und Garten aufnehmen können. Mrs. Mansfield
reagiert aufgebracht auf die Konkurrenz Dr. Harlans und ist überzeugt davon,
dass männliche Geburtshelfer die erfahrenen Hebammen aus ihrer Tätigkeit
verdrängen wollen. Lilly fürchtet, dass sie zwischen die einander erbittert
bekämpfenden Parteien geraten könnte und dass Dr. Harlan im schlimmsten Fall
Lilly am Ende ihrer Lehrzeit keine Hebammen-Lizenz ausstellen wird.
Ihr drittes Ausbildungsjahr absolviert die junge Hebammenschülerin bei der
bekannten Londoner Hebamme Mrs. Hill. Lilly wird von der Familie Hill herzlich
in ihren großen Haushalt aufgenommen, der aus Lillys Ausbilderin, dem Apotheker
Mr. Hill, den erwachsenen Kindern Rose und Paul, zwei weiteren
Hebammenschülerinnen und dem Gesinde besteht. Für das Londoner Stadtleben
bleibt Lilly kaum Zeit; denn sie wird von Mrs. Hill sofort in die Geburtshilfe
und die Betreuung von Müttern und Neugeborenen eingebunden. Lilly, die schon in
Wickham besondere Einfühlung in die soziale Lage Schwangerer zeigte, wird auch
in London mit armseligen Lebensbedingungen, dem Schicksal unerwünschter Kinder
und erneut mit dem Konflikt zwischen Ärzten und Hebammen konfrontiert. Ohne
Wissen von Mrs. Hill spioniert Lilly Dr. Smollett nach, dem Arzt, dem man
nachsagt, dass er neue Instrumente zur Geburtshilfe skrupellos an armen Frauen
und Prostituierten ausprobiere, um sie später bei den Entbindungen
wohlhabender, "anständiger" Frauen erfolgreich einsetzen zu können.
Lilly bringt sich mit ihrem Alleingang nicht nur selbst in große Gefahr - sie
gefährdet, ohne es zu ahnen, den Ruf und damit die berufliche Existenz der
Mrs. Hill.
Edith Beleites gibt in ihrem sorgfältig recherchierten Jugendroman Einblick in
die Arbeit von Hebammen im 18. Jahrhundert. Die Autorin schildert mit großer
Liebe zum Detail die fundierte Ausbildung, die die Schülerinnen erhalten. Das
Auftreten des Dr. Harlan zu Beginn des Buches und seine persönlichen Motive
fand ich wenig schlüssig dargestellt. Wie hätten die in bitterer Armut
lebenden Bergarbeiterfamilien zu jener Zeit seine Hilfe bezahlen sollen? Mrs.
Mansfields kritische Einschätzung des Konflikts zwischen männlicher und
weiblicher Geburtshilfe wird zu einem sehr frühen Zeitpunkt formuliert, zu dem
die Leserinnen die Bewertung noch nicht durch den Verlauf der Handlung
nachvollziehen können. Das für Lilly ungewohnte Leben im Haushalt der
Apothekerfamilie lässt uns ins Leben der Stadt London im 18. Jahrhundert
blicken und zeigt authentisch das damalige Wissen über die Wirkung von
Heilpflanzen. Mit Mrs. Hill, die das Leben Schwangerer und Gebärender im
Zusammenhang ihrer Lebensumstände wahrzunehmen vermag, und Dr. Smollet, der
Medizinstudenten in Geburtshilfe ausbilden möchte, stehen sich die so genannte
weibliche und die männliche Geburtshilfe unversöhnlich gegenüber. Mrs. Hill
hält Smollet für einen brutalen Stümper. Smollet blickt verächtlich auf die
seiner Ansicht nach unwissenschaftliche, weibliche Geburtshilfe herab und löst
eine vernichtende Rufmordkampagne gegen die populäre Mrs. Hill aus. Die
Kontrahenten werden sehr emotional in Schwarz-Weiß-Manier beschrieben, ohne
dass die Leser eine Chance erhalten, die männlichen Mediziner aufgrund ihrer
mangelhaften Ausbildung und ihrer begrenzten anatomischen Kenntnisse sachlich
als Vertreter ihrer Epoche zu begreifen. Der Einsatz von Instrumenten in der
Geburtshilfe mag auf uns grausam wirken, er erfolgte vermutlich auch aus dem
Wunsch nach einer Weiterentwicklung der Geburtshilfe.
Fazit
Lilly persönliche und berufliche Entwicklung, wie auch das Verhältnis zu ihrem
beiden Lehrhebammen schildert Edith Beleites fesselnd und glaubwürdig. Mit
ihrem Blick für soziale Zusammenhänge und ihrem Engagement für eine
umfassenden Schwangeren- und Mütterfürsorge ist Lilly ihrer Zeit erstaunlich
weit voraus. Für ein Mädchen ihres Standes verblüfft die selbstbewusste Art,
mit der sie ihre Ideen einbringt. Die Leserinnen werden im Lauf der Handlung mit
manch blutigem Detail konfrontiert, am Ende eines gekonnt gestalteten
Spannungsbogen können sie gemeinsam mit Lilly jedoch wieder aufatmen. Ein sehr
empfehlenswerter historischer Roman, der in einer Zeit spielt, in der nur wenige
junge Frauen eine fundierte Berufsausbildung absolvieren konnten.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 20. Mai 2009 2009-05-20 09:22:46