Chandler gehört - neben Dashiell Hammett, der mir persönlich noch besser
gefällt - zu den bedeutendsten amerikanischen Kriminalschriftstellern. Chandler
wurde am 23. Juli 1888 in Chicago geboren. Nach der Scheidung sseiner Eltern kam
er 1896 mit seiner Mutter nach England, wo er bis 1905 das Dulwich College
besuchte. Eine literarische Karriere war von der Familie weder geplant noch
wurde sie zugelassen. Sechs Monate lang arbeitete er im Marineministerium; dann
lief er, zum Entsetzen der Mutter, buchstäblich davon. Danach verdiente er
seinen Lebensunterhalt mit journalistischer Arbeit. Im Ersten Weltkrieg kämpfte
chandler zuerst bei den Kanadieern, zuletzt bei der englischen Royal Air Force.
1919 kehrte er in die USA zurück. Wahrscheinlich hätte er nie
Kriminalgeschichten geschrieben, wenn er nicht in seinem bürgerlichen Beruf
gescheitert wäre. Zeitweise soll er an der Spitze mehrerer Ölgesellschaften
gestanden haben und seine Stellung während der großen Depression verloren,
aber dies ist biographisch umstritten. Jedenfalls mußte er danach auf andere
Art und Weise Geld verdienen. 1933 veröffentlichte er seine erste Erzählung in
der Zeitschrift Black Mask. Es sollten 21 Kurzgeschichten und sieben Romane
folgen, die seinen Weltruhm ausmachten.
Kenner sind sich uneinig, ob nun "The big sleep" (Der lange Schlaf),
sein erster Roman aus dem Jahre 1939, oder "The long Goodbye" (Der
lange Abschied, 1953) sein bester Roman ist. In jedem Fall hat er in den Romanen
Motive seiner früheren Erzählungen eingebaut, wenn auch literarisch
abgewandelt.
Während der Detektiv in den Erzählungen ganz verschiedene Namen trägt oder
einfach in der Ich-Form berichtet, ist sein Name in allen Romane Marlowe. Dieser
Marlowe ist ein Einzelgänger, der unter seiner harten, zynischen Schale ein
weiches Herz hat. Er besitzt einen untrüglichen Sinn für Gerechtigkeit. Er
hilft denjenigen, die das Recht auf ihrer Seite haben, und dies sind meistens
die Armen, die Wehrlosen, die Betrogenen, die Ausgenützten. Marlowe geht es
nicht so sehr um das Überführen des Mörders, sondern um soziale
Gerechtigkeit. Philip Durham formulierte es folgendermaßen: "bei Chandler
wird gemordet, gewiß, aber der Detektiv setzt sein Leben und sienen Beruf aufs
Spiel, um soziales Unrecht jeder Art zu korrigieren: um die Schwachen zu
schützen, um ethische Maßstäbe aufzurichten, um Leid zu lindern, um zu
retten, was von den zerbrechlichen menschlichen Wesen noch zu retten ist."
(zit. nach: Reclams Kriminal-Führer. Stuttgart: Reclam, 1978, S. 102).
Marlowe entstammt aus einer kalifornischen Kleinstadt, ca. 50 Meilen nördlich
von San Francisco, hat keine lebenden Verwandten mehr. Er arbeitete als
Ermittler für eine Versicherungsgesellschaft und auch für die
Staatsanwaltschaft von Los Angeles, ohne deshalb ein früherer Polizeibeamter zu
sein. Marlowe ist nicht korrupt. "Er nimmt von keinem Menschen schmutziges
Geld und von keinem Menschen eine Beleidigung hin, ohne sie gebührend und
leidenschaftslos zu vergelten. Er ist ein einsamer Mensch, und sein Stolz ist,
daß Sie seinen Stolz respektieren, sonst würde es Ihnen bald leid tun, ihn
kennengelernt zu haben." (zit. nach: Jochen Schmidt: Gangster, Opfer,
Detektive. - Frankfurt: Ullstein-Verl., 1989, S. 124).
Chandler erzählt die Abenteuer seines Detektivhelden in ungeheuer bildreicher
Sprache. Was mich an ihm fasziniert, ist sein lakonischer Witz, der
unwahrscheinlich "trocken" daherkommt. So heißt es in einem Kapitel
des Romans: "Der lange Abschied": "Ich ließ ihn in seiner
metallisch grauen Zelle stehen und entfernte mich durch das Wartezimmer. Es sah
direkt hübsch aus jetzt. Nach diesem Zellenblock hatten die grellen Farben
Sinn." (Der lange Abschied. - Zürich: Diogenes-Verl., 1975, S. 122.
Übersetzung von Hans Wollschläger.
Hinter diesen kargen und treffenden Schilderungen steckt viel
Gesellschaftskritik: Immer hat er es mit korrupten Polizisten, Verbrechern,
Kapitalisten zu tun. Dies ist auch in dem Buch: "Der lange Abschied"
der Fall. Clemens Meyer hat im Spiegel geschrieben: "Der lange Abschied ist
ein Desillusionierungsroman. Stilistisch ist das Buch von einer absoluten Kühle
und Klarheit, die für mich in der modernen Literatur unerreicht bleibt."
[Daher bemüht sich Clemens Meyer wohl, den Stil dieser "hard-boiled
Autoren in seinen Geschichten und Romanen zu kopieren, etwa in seinem Roman:
"Als wir träumten" B.N.]. Wie auch immer: "Chandlers Romane und
Geschichten erzählen "das Abenteuer dieses Mannes [Marlowe, B.N.] auf der
Suche nach der verborgenen Wahrheit, und wäre es kein Abenteuer, widerführe es
nicht einem Mann, der fürs Abenteuer geschaffen ist. Die Weite seines
Bewußtseins wird Sie vielleicht etwas überraschen, aber sie gehört ganz
legitim zu ihm, weil sie zu der Welt gehört, in der er lebt. Gäbe es genügend
seinesgleichen, die Welt wäre ein Ort, so sicher, daß man darin leben könnte,
und doch nicht so langweilig, daß es sich nicht mehr lohnte, darin zu
leben." (Raymond Chandler: Die simple Kunst des Mordes. Zürich:
Diogenes-Verl., 1975, hier zit. nach Jochen Schmidt, a.a.O., S. 12. Schmidt
fügt hinzu: "Dem ist nichts hinzuzufügen." In der Tat.
Im "langen Abschied" hat Marlowe Mitleid mit einem stark betrunkenen
jungen Mann, der von einer reichen Dame aus dem Auto geworfen wird. Er heißt
Terry Lennox und wird Marlowes Freund. Lennox ist - als fünfter Mann - mit der
verwöhnten Sylvia, Tochter des Multimillionärs Potter, verheiratet. Sylvia
wird ermordet und Marlowe hilft seinem Freund, nach Mexiko zu fliehen. Marlowe
ist überzeugt, dass Lennox unschuldig ist. Er beginnt daher, den Fall zu
untersuchen. Niemand aber wünscht dies, auch Lennox nicht. Und Marlowe gerät
von einem Wespennest ins andere.
Fazit
Harenbergs Literaturlexikon stellt wunderbar ironisch fest: "Marlowe wird
nach den Erfahrungen, die er in diesem Roman macht, nie mehr einem scheinbar
hilflosen Betrunkenen helfen." (Harenberg: Das Buch der 1000 Bücher. -
Dortmund: Harenberg-Verl., 2002, S. 233). So ist es. Anlässlich seines 50.
Todestages am 26. März 2009 hat der Diogenes Verlag die Werke Chandlers erneut
aufgelegt. Sie sind wirklich lesenswert!
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
[Profil]
veröffentlicht am 19. April 2009 2009-04-19 15:31:25