Will kehrt zur Beisetzung seiner Mutter nach Medicine River, einem kleinen Ort
in der kanadischen Provinz Alberta zurück. Wills Erinnerungen an die Erlebnisse
seine Kindheit sind eng mit den Erinnerungen anderer Personen verknüpft. Alte
Geschichten, die die Tradition der Blackfoot-Indianer weitergeben sollen, werden
in Medicine River gern erzählt, Jäger-Latein und Rodeo-Erlebnisse der alten
Männer und auch die Briefe, die Wills Vater aus der Ferne schickte, waren
nichts als Geschichten. Will und seine Mutter haben niemals Antworten darauf
gefunden, warum der Vater die Familie verlassen hat. Die Erinnerungen an Wills
Mutter Rose und an seine Kindheit fügen sich harmonisch in die Ereignisse der
Gegenwart ein.
Ständiger Begleiter Wills ist vom Tag seiner Ankunft an Harlen Bigbear, ein
eigenartiger Typ, der seine Nase ständig in die Angelegenheiten anderer Leute
steckt, sich auf beiläufige Art in alles einmischt und seine Mitmenschen mit
unerbetenen Ratschlägen nervt. Harlen habe sein Leben dem freien
Informationsfluss gewidmet, erklärt King diesen übertriebenen Helfer- und
Beschützerinstinkt. Will sieht sich vor der Entscheidung, ob er nach Jahren der
Abwesenheit zurückehren und sich in seinem Heimatort als Fotograf niederlassen
soll. Harlen ist in Gedanken mal wieder einen Schritt weiter und versucht Will
mit der hochschwangeren Louise Heavyman zu verkuppeln, die vom Vater ihres
Kindes verlassen wurde. Doch meistens kommen die Dinge anders, als Harlen sie
sich ausgemalt hat. Wir treffen Harlens Bruder Joe, der als professioneller
Geschichtenerzähler in der ganzen Welt unterwegs ist, einen Veteranen von
Wounded Knee und die alte Martha, die spätestens dann um Rat gefragt wird, wenn
ein neu geborenes Kind nach den Traditionen der Blackfoot auf dieser Welt
begrüßt werden soll. Will wird stets als Sohn von Rose vorgestellt. Seine
Generation scheint in einer vaterlosen Gesellschaft aufgewachsen zu sein, in der
die alten Blackfoot-Frauen das Heft fest in der Hand hatten. Auch Louises neu
geborene Tochter wird wieder ohne Vater aufwachsen, umsorgt von einer Reihe von
Onkeln wie Will.
Fazit
Thomas King lässt in Einzelszenen Wills Erinnerungen an die Ereignisse der
Gegenwart anknüpfen. Der Autor erzählt auf leichte unspektakuläre Art, ohne
die gegenwärtigen Probleme Kanadas indianischer Bevölkerung zu beschönigen.
Wer wie Will und seine Mutter in fernen Großstädten Arbeit sucht, lässt den
Heimatort, Familienbande und die eigene Kultur weit hinter sich. Die Heimkehrer
müssen sich nach Jahren der Abwesenheit mit einer stark veränderten
Gemeinschaft abfinden. Wills und Louises Sprachlosigkeit mag eine Folge dieser
Entfremdung sein, sie ist auch Folge fehlender Vorbilder für eine Beziehung, da
beide wie viele ihrer Generation mit abwesenden Vätern aufgewachsen sind. In
"Medicine River" sprechen besonders Kings vielfältige Variationen des
Erzählens und Erinnerns an; beides ist für die Überlieferung der Kultur der
First Nations von besonderer Bedeutung.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 05. April 2009 2009-04-05 08:57:52