Wolfgang Leonhard ist langjähriger Sowjetexperte. Seit 1935 in Russland im Exil
lebend, kannte er Josef Stalin persönlich. Von 1943 an war er Mitglied des
Nationalkomitees Freies Deutschland und kehrte im Mai 1945 mit der "Gruppe
Ulbricht" nach Deutschland zurück. Er arbeitete u.a. als Dozent an der
SED-Parteihochschule bis er 1949 mit dem Stalinismus brach, über welchen er in
seinem Klassiker: "Die Revolution entlässt ihre Kinder" eindrucksvoll
berichtet hat.
Alarmiert über restalinistische Tendenzen im Rußland unter Putin und Medwedjew
und der Anordnung Putins aus dem Jahre 2007, die Stalin-Zeit wieder
"objektiver " darzustellen, bemüht sich Leonhard, ein realistisches
Bild von Josef Stalin zu zeichnen. Ähnlich den "Anmerkungen zu
Hitler" von Sebastian Haffner konzentriert er sich auf das Wesentliche zu
Person und Politik Stalins. Er fragt nach den Ursachen von Stalins Aufstieg,
analysiert seine Politik und Ideologie im Vergleich zu den ideologischen Maximen
von Marx, Engels und Lenin. In Anlehnung an die - im Literaturverzeichnis
erwähnte - Stalin-Biographie von Maximilian Rubel sieht Leonhard in Stalin
nicht nur den reinen Machtpolitiker, sondern er untersucht auch die Ideologie
des Stalinismus. Insbesondere habe Stalin ein Gespür für die Stimmungen der
"Masse" gehabt. Sein Sieg über Trotzki verdanke er im Wesentlichen
der Tatsache, dass er dem Ruhebedürfnis des Volkes durch "realistische
Ziele" - etwa die "Revolution in einem Lande" gegenüber der
"Permanenten Revolution" Trotzkis - scheinbar entgegenkam:
"Stalins These vom "Sozialismus in einem Lande" hatte den
entscheidenden Vorzug, dass sie im Gegensatz zu Trotzkis diffuser Theorie von
der "permanenten Revolution" nicht nur eine verständliche Zielsetzung
formulierte, sondern vor allem auch eine, die sich in naher Zukunft
verwirklichen ließ" (S. 52).
Dass seine Herrschaft keine Ruhe brachte, sondern totalen Terror, zeigte sich
nach 1924. Wie raffiniert Stalin bei seiner Machtübernahme vorging, zeigt
Leonhard beispielsweise anhand der Analyse der Rede Stalins anlässlich der
Beisetzung Lenins. "Genau in dem Moment, als die Parteispitze ein Bild der
Auflösung bot, stiftete er inneren Zusammenhalt und gab den verunsicherten
Genossen neuen Mut."
Die Kapitel über den Aufstieg Stalins und die "Ideologie" des
Stalinismus - wobei Unterschiede zum Marxismus und zu Lenins politischen
Vorstellungen deutlich analysiert werden, sind die interessantesten im
vorliegenden Essay. Interessant auch, warum Stalin nicht auf Widerstand bei der
leidgeprüften Bevölkerung stieß, als sein Terrorregime immer offensichtlicher
wurde. So rechtfertigte er den Terror mit dem angeblich verschärften
Klassenkampf in der Periode des sozialistischen Aufbaus und gaukelte der
Bevölkerung 1945 vor, nach dem Krieg werde sich das Regime liberalisieren - das
Gegenteil war der Fall. Nur Stalins Tod verhinderte eine neue Säuberungswelle,
die im Januar 1953 offiziell eingeleitet wurde.
Ich selber habe mich in einem Aufsatz unter www.benoroe.de/stalin mit dieser
historischen Figur ausführlich beschäftigt. Was mich an der vorliegenden
Studie fasziniert hat, war die Tatsache, dass hier persönliche Erinnerungen
erklärbar machen, warum Stalin an die Macht kommen und sich dort halten konnte.
Was mir fehlt, sind strukturelle Faktoren des Aufstiegs Stalins. Ohne seine
Ernennung zum Generalsekretär der Partei (ursprünglich ein reines
administratives Amt, welches Stalin gezielt zur mächtigsten Machtstelle des
Landes ausbaute) wäre nicht verständlich geworden, warum Stalin seine
Anhänger in führende Positionen bringen konnte und somit im Zentralkomitee der
Partei nach Lenins Tod auf eine Mehrheit setzen konnte. Durch raffinierte
Machtpolitik (zunächst verbündete er sich mit Sinowjew und Kamenew gegen
Trotzki, dann mit Bucharin und Tomski gegen Kamenew und Sinowjew, sodann botete
er auch die "Parteirechte" aus und wurde 1929 Alleinherrscher der
Sowjetunion) gelang dem lange unterschätzen Stalin der langersehnte Aufstieg,
obwohl ihn die Angst, die Macht wieder abgeben zu müssen, nie verließ und eine
wichtige Erklärung für die Terrorakte nach 1934 wurden. Seinen Rivalen, den
Leningrader Parteichef Kirow, ließ er 1934 ermorden, nachdem Kirow auf dem
"Parteitag des Sieges" im Januar 1934 mehr Stimmen erhalten hatte als
er selber. Erst als das gesamte Zentralkomitee - und damit alle potentiellen
Stalin-Gegner - 1939 "ausgerottet" waren, stellte er die
"Säuberungen" ein; möglicherweise auch unter dem Eindruck des
nahenden Weltkrieges.
Den Weltkrieg gewann Stalin, nachdem er an Hitlers bevorstehenden Angriff nicht
glauben wollte, weil er nach ersten Niederlagen seinen Generälen die sachlichen
Entscheidungen überließ, die er formal absegnete.
Zu kursorisch fallen Leonhards Anmerkungen über den Spätstalinismus zwischen
1945 und 1953 aus, die er selber nur noch von Ferne - zunächst in der DDR, dann
in Jugoslawien, dann in Deutschland, erlebte.
Insgesamt fehlen in dieser Analyse strukturelle Gründe für den Aufstieg und
das Wirken Stalins. Obwohl der Stalinismus als eigene Ideologie dargestellt und
wahrgenommen und Unterschiede zu Marxismus und Leninismus dargestellt werden,
erscheint letztlich doch persönlicher Machtwillen ausschlaggebend für den
Aufstieg Stalins und seine Terrorherrschaft. Strukturelle Gründe über den
Stalinismus kommen zu kurz. Auch vermisse ich neuere Veröffentlichungen zum
Thema Stalin und Stalinismus. Als einzige relevante Stalin-Biographie wird die
von Isaac Deutscher angeführt. Wo aber bleiben die Veröffentlichungen
Wolkogonogws über Lenin und Stalin oder ein Verweis auf dessen Werk: "Die
sieben Führer", die eindeutig aufzeigen, dass Lenin ebenfalls
verbrecherische Entscheidungen traf? Leonhard bewundert Lenin, hält bestimmte
Ansätze des Leninismus sogar für demokratisch. So habe Lenin ernsthaft
Mitbestimmung der Abgeordneten des Obersten Sowjets angeregt. Doch es war Lenin,
der das "Fraktionsverbot" auf dem Parteitag 1921 durchsetzte und den
Kronstädter Matrosenaufstand niederwalzen ließ. Doch Lenin gehört - auch
heute noch - wie Marx und Engels zu den "Helden der Revolution". Hier
nimmt Leonhard neuere Forschungsergebnisse nach Öffnung der russischen Archive
- über Lenin - offensichtlich nicht zur Kenntnis und entsprechende Werke fehlen
in seinem Literaturverzeichnis.
Wer über den neueren Forschungstand zu Stalin - und Lenin - nach Öffnung der
russischen Archive genauer informiert werden möchte, der sollte Klaus Kellmanns
2005 erschienener Stalin-Biographie, zu Wolkogonows Werk: "Die sieben
Führer" greifen oder zur Analyse des Stalinismus, die Stefan Plaggenborg
1998 herausgegeben hat (oder zu dessen Werk: "Experiment Moderne: Der
sowjetische Weg" aus dem Jahre 2006). Michail Voslenskys Stalin-Portrait
aus seinem Werk: "Die Väter der Nomenklatura" aus dem Jahre 1989
sowie Trotzkis Stalin-Biographie aus dem Jahre 1940 gehören zum Besten, was
über Stalins Persönlichkeit geschrieben worden ist. Wer Stalins Psyche
verstehen will, der greife zu Trotzkis Stalin-Biographie aus dem Jahre 1940. Wo
kommt es in der Weltgeschichte vor, dass jemand eine Biographie über seinen
zukünftigen Mörder schreibt und buchstäblich über dieser Biographie getötet
wird? Die Trotzki-Biographie ist für mich bis heute das Beste, was über Stalin
geschrieben worden ist.
Fazit
Leonhards Buch ist insgesamt daher als Einführung in die Materie - etwa für
Schüler - durchaus geeignet, für ein Verständnis des Stalinismus und der
Person Stalins jedoch aus meiner Sicht zu oberflächlich, weil strukturelle
Analysen des Stalinismus zu kurz kommen.
Die "Anmerkungen" bestechen jedoch durch die Authentizität des
persönlichen Erlebnisses und die plastische Darstellungsweise des Autors.
Insgesamt daher 7 von 10 zu vergebenen Punkten.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
[Profil]
veröffentlicht am 24. März 2009 2009-03-24 21:44:54