Bereits beim Lesen von Band 1 von Kershaws vielgelobter Hitler-Biographie
(Verweis siehe unten) hatte mich Unbehagen erfasst und ich habe dies zu
begründen versucht. Ich hatte gehofft, dass bestimmte Mängel, die ich in Band
1 kritisiert hatte (Wechselwirkung zwischen Persönlichkeit und Gesellschaft) in
Band 2 behoben werden würden. Nun muß ich höchst enttäuscht feststellen,
dass Kershaw dies nicht gelungen ist. Zwar hat er eindrucksvoll Quellen
erschlossen, jedoch die Frage nicht beantwortet, wie Hitler möglich war und
warum sein Erfolg so lange angehalten hat. Gerade ein Autor, der den Begriff des
"Hitler-Mythos" geprägt hat und von charismatischer Herrschaft
ausgeht, hätte untersuchen müssen, warum die Bindungskraft der Deutschen an
Hitler (er spricht von einem "Führerstaat ohne anwesenden Führer")
nachließ. Von der verlorenen Schlacht in Stalingrad kann man dies - der Autor
hat dies selber getan - deutlich belegen. Sein Anspruch im Vorwort von Band 1,
eine Biographie vorzulegen, die stärker die Wechselwirkung der strukturellen
gesellschaftlichen Gegebenheiten und der biographierten Person berücksichtigt,
ist der Autor nicht gerecht geworden. Gerade in Band 2 wird die Wechselwirkung
von gesellschaftlichen Faktoren und Person wieder zugunsten einer traditionellen
Hitler-Biographik aufgegeben. Er hat also nichts neues bewirkt. Etwas zweites
kommt hinzu:
Sebastian
Haffner hat in seinen "Anmerkungen zu Hitler" - meiner Meinung
nach das Beste, was je über Hitler geschrieben wurde (dies gilt auch nach
Krockows: "Hitler und
seine Deutschen") den Zusammenhang zwischen dem absehbaren Scheitern des
Rußlandfeldzuges, der Kriegserklärung an Amerika und dem Beginn des Holocaust
(Wannsee-Konferenz) nachgewiesen: Hitler sah im November 1941 endgültig ein,
dass sein Krieg verloren und sein Ziel, die Weltherrschaft zu erringen, nicht zu
realisieren war. Zeit brauchte er jedoch zur Realisierung seines zweiten Zieles:
der Vernichtung der Juden: daher seine Durchhaltebefehle. Dieser Zusammenhang
wird bei Kershaw nicht deutlich, obwohl der zeitliche Zusammenhang
offensichtlich ist. Dies liegt meiner Meinung nach daran, dass sich Kershaw zu
sehr auf die vorhandenen Quellen bezieht ohne Schlußfolgerungen daraus zu
ziehen. Die Frage, warum Hitler möglich war und warum gerade die deutsche
Spielart des Faschismus, der Nationalsozialismus, zu einer solchen Radikalität
und Totalität sich entwicklen konnte, wird nicht genügend geklärt. Krockow
etwa spekuliert in seiner neuen Hitler-Biographie, wenn Hitler 1938 einem
Attentat zum Opfer gefallen wäre, er durch Göring ersetzt worden wäre und es
keinen Krieg gegeben hätte. Wie man auch immmer zu dieser These stehen mag, es
werden hier - wie bei
Joachim
Fest oder Haffner neue Antworten gesucht. Der Zusammenhang zwischen
Gesellschaft und Person ist deutlicher in der Hitler-Biographie von Pätzold und
Weißbecker herausgearbeitet; die Tatsache, dass Hitler ein
"Revolutionär" war, findet sich bereits bei Haffner und
Zitelmann. Wo also ist die
Berechtigung, das "Neue" an dieser vielgelobten Biographie? Ich kann
es nicht erkennen. Die Werke "Hitlers Macht" und "Der
Hitler-Mythos" zeigen deutlicher die Bedingungen des Machtaufstieges dieser
Person auf als die vorliegende Biographie. Außerdem müßte deutlicher
herausgearbeitet werden, dass Hitler selber ein "starker" Diktator war
und gegen seinen Willen nichts möglich war. Dass es in einem totalitären
Staat, der noch dazu - im Vergleich zu dem vorherigen System - äußerst
populär war (zumindest bis 1940) kaum möglich war, ohne Lebensgefahr aktiv
Widerstand zu leisten - worauf auch Richard Löwenthal in dem Sammelband
"Nationalsozialistische Diktatur: 1933-1945: eine Bilanz" / hrsg. von
Karl Dietrich Bracher,
Manfred Funke und Hans-Adolf Jacobsen (1983) hingewiesen hat, dürfte neben
obrigkeitsstaatlichen Traditionen die Servilität der politischen Klasse
gegenüber Hitler erklären, der die Träume der Bevölkerung (materielle
Sicherheit, Beseitigung des "Schandflecks von Versailles",
wirtschaftlicher Aufschwung) zunächst erfüllte, auf die Kershaw immer wieder
hinweist, indem er das Zitat "dem Führer entgegenarbeiten" laufend
zitiert. Wie gesagt, es handelt sich um eine Fleißarbeit und um eine
eindrucksvolle Sammlung der bisher vorliegenden Forschungsliteratur zu dem Thema
Hitler, ohne das Phänomen seines Aufstieges und Verbleibens an der Macht
befriedigend erklären zu können. Ich bleibe bei der Aussage von Band 1: Wer
die Wirkung Hitlers auf die Deutschen und die Frage, wie er möglich war,
erklärt haben möchte, sollte in erster Linie zu Haffners "Anmerkungen zu
Hitler" oder der Hitler-Biographie von
Joachim Fest greifen. Die
gesellschaftlichen Aspekte werden am besten in der Hitler-Biographie von
Pätzold und Weißbecker abgehandelt.