Als das Massaker an der Pleasant Valley Highschool bekannt wurde, klingelten bei
Tom und seinen Klassenkameraden die Handys. Ihre besorgten Eltern wollten sich
vergewissern, dass mit ihren Kindern alles in Ordnung war. Wie 1999 in Littleton
waren in Pleasant Valley die coolsten, attraktivsten Typen und die erfolgreichen
Basketballspieler getötet worden. Niemandem waren die Täter vorher
aufgefallen, niemand hatte auch nur geahnt, dass sie eng miteinander befreundet
waren. An der Unauffälligkeit möglicher Amokläufer beißt sich Toms
Schuldirektor fest und beschließt für seine Schule, die Central High, eine
kompromisslose Null-Toleranz-Politik. Null Toleranz bedeutet zukünftig: keine
Waffen, keine Drogen, keine Schmierereien, keine Basecaps, keine Mützen bei
Temperaturen über Null Grad, keine bauchfreien Tops mehr an der Central High.
Die Eltern werden in regelmäßigen Mails aufgefordert, ihre Kinder auf
Anzeichen von Depressionen zu beobachten und schließlich stellt die Central
High als Ansprechpartner für Schüler und Eltern einen eigenen Krisenberater
ein. Dr. Henry Willner, ein älterer Psychologieprofessor, hat sich auf die
Fahne geschrieben, mit allen Mitteln "die Gemeinschaft zu schützen".
Sehr merkwürdig, dass für die Gewalt-Prävention ein Schulfremder eingestellt
wird, sehr merkwürdig auch, dass sich Willners Ideen wie Drohungen anhören.
Die Schüler fühlen sich durch die Ereignisse in Pleasant Valley kein bisschen
traumatisiert und fragen sich, wieso sie durch Metalldetektoren,
Sicherheitspersonal und Spindkontrollen ihre persönlichen Rechte einschränken
lassen sollen. Dass ein zweites Schulmassaker passieren könnte, halten sie für
ausgeschlossen, schließlich schlägt der Blitz doch auch nicht zweimal an
derselben Stelle ein. Als alle Schulsportler zu regelmäßigen Drogentests
verpflichtet werden, ist das Schülern wie Lehrern überaus peinlich. Dr.
Willner hat inzwischen an Toms Schule einen Überwachungsstaat Orwellschen Stils
eingerichtet, der Direktor Mr. Trent scheint entmachtet, die Eltern reagieren
hilflos und weichen Gesprächen mit ihren Kindern am liebsten aus. Kein Wunder,
dass die Schüler sich untereinander nicht mehr trauen können, dass sie
überzeugt davon sind, von Willner rund um die Uhr abgehört zu werden. Silas,
der zu Toms Clique gehört, hatte seine Freunde gewarnt, das inzwischen in den
USA aus so genannten Boot Camps Jugendliche verschwinden und nie wieder in ihre
Heimatorte zurückkehren. Was sich wie eine hysterische Übertreibung anhört,
wird für Tom und seine Freunde Wirklichkeit, als auch Silas in ein Bootcamp
eingewiesen wird.
Mit der Einstellung des dubiosen Dr. Willner scheint der Direktor der Central
High School alles richtig gemacht zu haben. Er hat schnell auf die Gewalttat an
der benachbarten Schule reagiert, so dass die Eltern ihre Kinder vordergründig
in Sicherheit wähnen können. Auch extremste disziplinarische Maßnahmen und
Verbote werden niemanden von Selbstmordgedanken abhalten können. Die realen
Probleme Jugendlicher können die Leser in einigen Nebenfiguren aufspüren, wie
zum Beispiel bei Stephanie, deren Bruder vor kurzem an Aids starb. Die Eltern
der Central High Schüler scheinen die Veränderungen klaglos hinzunehmen und
ihre Verantwortung nur zu gern an die Institution Schule, später an "den
Staat", abzugeben. Toms Vater, dem als Künstler gesellschaftliche Normen
herzlich egal sind, klinkt sich auf seine Art aus dem Überwachungs-System
Schule aus, indem er die täglichen Mails von Dr. Willner ignoriert. Tom fallen
die Widersprüchlichkeiten des Willnerschen Staates bald auf, er erkennt hinter
Willners formelhafter Sprache Gefühllosigkeit und die Unfähigkeit, sich den
tatsächlichen Problemen der Schüler zu stellen.
Fazit
Faszinierend an Francine Proses Jugendroman finde ich, wie die Autorin die
berechtigte Sorge von Eltern um die Sicherheit ihrer Kinder aufnimmt, die
Eingendynamik Dr. Willners extremer Schutz- und Überwachungs-Maßnahmen
überzeichnet, um sie am Ende als Selbstzweck zu enthüllen. Kein Wachmann und
kein Denkverbot werden verhindern können, dass ein Schüler der Gemeinschaft
"verloren" geht oder dass ein Jugendlicher an einer Schule mit großer
Schülerzahl so vereinsamt, dass er gar nicht mehr wahrgenommen wird. "Am
Tag danach", das im Jahr 2003 in den USA erschien und sich im Text
ausdrücklich auf die Amokläufe in Littleton, Colorado (1999) und Paducah,
Kentucky (1997) bezieht, ist für deutsche Leser im März 2009 von beklemmender
Aktualität.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 22. März 2009 2009-03-22 09:23:06