Als ästhetische Manifestation der industriellen Zivilisationsdynamik
erschütterte der italienische Futurismus um F. T. Marinetti Anfang des 20.
Jahrhunderts das sich sicher währende politische und künstlerische Italien.
Nach allen gravierenden Umwälzungen stellen sich alte Fragen heute wieder neu:
Was verbindet Avantgarde, Totalitarismus und ein radikaler Technizismus? Auf das
in derartigem Stil 1909 im "Figaro" veröffentlichte
Gründungsmanifest des italienischen literarischen Futurismus von F. T.
Marinetti folgte eine Flut von Manifesten zu fast allen künstlerischen
Bereichen sowie zur Politik. Mit Marinetti gaben U. Boccioni, C. Carrà, L.
Russolo und G. Balla 1910 beispielsweise das "Manifest der futuristischen
Malerei" heraus, gefolgt vom "Technischen Manifest der futuristischen
Malerei".
Fotodynamismo, anti-graziöse Musik, das Kino und die "Malerei der Töne,
Geräusche und Gerüche" dienen den Futuristen zur Verherrlichung der
Schnelligkeit, des Dynamismus und damit der wieder zum Leben erwachten Formen.
Das erste Manifest des Futurismus von Marinetti stößt bei den Malern Balla,
Boccioni, Carrà, Russolo und Severini auf ein positives Echo. Diese Futuristen,
die sich zunächst um Marinetti sammelten, deklarierten sich zur Avantgarde der
modernen Kunst. Das erste Manifest - es wurde verkündet von der Bühne des
Chiarella Theaters in Turin - formulierte die Rebellion der Künstler gegen die
Vulgarität und gegen die Nachahmung in der bildenden Kunst. Im Mittelpunkt
stand stets das Verhältnis der Künstler zu der sie umgebenden Gesellschaft.
Thematisch erklären die Künstler in dieser Schrift, daß ihre Kunst - die
einzig lebensfähige - ihre Elemente in der sie umgebenden Umwelt finde. Das
zweite Manifest diente der Darlegung der technischen Umsetzung dieser Rebellion.
In diesem und den folgenden wurde die Entstehung eines futuristischen Menschen
proklamiert, der aus der Verschmelzung mit der Maschine, der für die Futuristen
hervorragensten aller menschlicher Erfindungen, hervorgehen sollte.
Das vorliegende Buch nun vereint alle Texte zum Futurismus in übersetzter
Originalversion und ist damit eine einmalige Fundgrube. Zugleich scheinen damit
alle Kanäle neu auf, die der Futurismus mit heilbringendem Nektar zu fluten
trachtete: die Politik, die Musik, die Malerei, die Kunst, die Technik, den
Menschen selbst und die Lyrik. Die Maschine wird als neuer, lebendiger,
menschlicher Körper beschrieben, der den organischen multipliziert. Eines der
späteren Manifeste Marinettis von 1914 trägt den Titel "Der
multiplizierte Mensch und das Reich der Maschine". Proklamiert wurde ein
Maschinenmensch mit austauschbaren, technischen Körperteilen. Als Inbegriff der
Moderne galt bei den Futuristen das Automobil. Geschwindigkeit und Schnelligkeit
stellten eine neue, rauschhafte Erfahrung dar. Die Welt war auf einmal
verknüpft. Im Stadium der Bewegung in der Maschine konnte man erstmals eins
werden mit der Welt. Interessant sind die im Buch enthaltenen Abbildungen, die
Marinetti selbst in seinem Wagen zeigen. Voll des Ausdrucks blickt er dem Leser
entgegen, als wolle er sagen:
"Liebe die Welt!"
"Sei gegen die Gichtigen und die Opportunisten!"
"Lebe die universelle Mobilität!"
"Gib dich der größtmöglichen Steigerung der Lebens- und
Wahrnehmungsintensitäten hin!"
Und in der Tat sind es die diversen futuristischen Manifeste für viele
Bereiche, welche diese neuen Lebensformen stets einforderten. Sie gipfeln in dem
Appell:
"Wir wollen den Krieg preisen, diese einzige Hygiene der Welt!"
Die bestehenden ästhetischen Ordnungen sollten von einem Lebensgefühl der
technisierten Welt abgelöst werden. Das zweite Manifest belegt es:
"Mit dieser (...) Zustimmung zum Futurismus wollen wir: (...) das heutige
Leben, das die siegreiche Naturwissenschaft unaufhörlich und stürmisch
verwandelt, wiedergeben und verherrlichen."
Der Futurismus reagierte damit auf die Veränderungen nicht nur der aktuellen
Lebensbedingungen. Die Beschleunigung der Bewegung, die Schnelligkeit, der neue
Dynamismus, die revolutionären Veränderungen im Nachrichten- und
Transportsystem, alle Elemente wurden durch die Publikation der Manifeste zum
Ausgangspunkt und zur Basis der avantgardistischen Programme. Sie mußten in die
Rebellion münden. Der wichtigste Beitrag futuristische Malerei sind ihre
Studien zur Bewegung. Die Anschauung der Dinge in den Werken der Futuristen sah
den Menschen nicht mehr als Mittelpunkt des Lebens. Vielmehr ist es der Schmerz
des Menschen. Er ist für sie dasselbe wie der Schmerz einer chronisch zuckenden
Glühlampe.
Die futuristischen Kundgebungen in den Sälen italienischer Städte waren
begleitet von Spannung: Als Marinetti mit seinen Gefolgsleuten die Bühne
betrat, herrschte Totenstille. Marinetti und seine Jünger brüteten an einem
runden Tisch inmitten des Saales.
Da!
Plötzlich erhebt sich Marinetti.
Die Menge zuckt auf!
Er verkündet seine Forderungen. Er erntet Beifall, auch dann, wenn er fordert,
der Beifall sei sentimentales Relikt der alten Zeit. Der Enthusiasmus ist nicht
mehr zu brechen. Die Kundgebung endete in einer Saalschlacht sondersgleichen.
Die zentralen Texte zur politischen und ästhetischen Theorie des italienischen
Futurismus, insbesondere der Einfluß Gabriele d’Annunzios und seiner
Ausformung eines modernen Übermenschen auf den Futurismus in Anlehnung an den
Philosophen der italienischen Achsenmacht Deutschland, Friedrich Nietzsche,
werden vom Herausgeber überzeugend dargelegt. Und immer wieder überwältigend
ist der originale Wortlaut der futuristischen Manifeste, die das Schlachtfeld
als eine einzige erregte Vagina betrachteten, die sich den Kriegern öffnet,
weswegen der Futurist Revolutionär, Patriot und zuletzt Sturmsoldat aus Liebe
zum Neuen ist. Er glaubt, haarlos dort stehend, denn der Futurismus hat keine
Haare, an das, was Marinetti ihm vorher noch zurief:
"Ihr Schuldet der Menschheit Helden - Gebt sie ihr!"
Und so läßt der "Hymnus an den Tod" nicht auf sich warten:
"-Hurrah! Hurrah! Alles haben wir besiegt,
alles haben wir gekostet und zerstört, und nun
trinken wir in langem Zug den Trank des Todes,
diesen klaren Sternentrank, der ewig leuchtet...."
Gegen das Geflenne der Menge geht der Futurist in der Theorie Marinettis mutig
durch den menschlichen Schmerz, denn was Frauen ebenso wie Männern am meisten
fehle, ist Mannheit, und diese will er jetzt im heldenhaften Leben beweisen.
Ähnlich kämpferisch ist auch die abgedruckte Rede Gottfried Benns auf
Marinetti. Benn preist darin beim futuristischen intellektuellen Helden
"die Härte des schöpferischen Lebens". Immer wieder sind es vor
allem geballte Wortfetzen, die den Futurismus am besten auszudrücken
vermögen:
"Explosives Leben, Anti-Kultur, Anti-Sentimental, Religion der Neuheit,
Anti-Egalitarismus, Schöpferische Intuition, Ästhetik der Maschine,
Destruktion der Syntax, Kraft-Linien, Physischen Transzendentalismus,
Schöpferische Genies, Simultanes Leben, Heilige Kunst, Anti-Museum,
Marschierende Synoptische Deklamation, Abstrakte Malerei aus Gerüchen, Tanz des
multiplizierten Körpers." Die Forderungen steigen ins unermessliche:
"DER GEBRAUCH DES PARFÜMS IST DURCH DEN ÜBLER GERÜCHE ZU ERSETZEN. LASST
IN EINEN BALLSAAL FRISCHEN ROSENDUFT EINDRINGEN, UND IHR WERDET EUCH IN EINEM
EITLEN, VERGÄNGLICHEN LÄCHELN WIEGEN, ABER LASST DEN SAAL VON DEM
TIEFGRÜNDIGEREN GERUCH DER SCHEISSE DURCHDRINGEN (...) UND IHR WERDET IHN IN
HEITERKEIT UND FREUDIGE ERREGUNG VERSETZEN."
(Aldo Palazzeschi: "Der Gegenschmerz")
Fazit
Pünktlich zum 100jährigen Jubiläum des Futuristischen Manifestes ist dieses
Buch die Beste aller Grundlagenlektüren. Und anstatt nur darüber zu schreiben,
zeigt es am Ende doch zahlreiche lohnender Wege für eine Revitalisierung des
Manifests auf, sei es auch nur, daß man in "fiebriger
Schlaflosigkeit" und im "Laufschritt" jetzt damit beginnt, die
Monotonie des Alltags und des medial gehegten Moralismus gnadenlos zu
durchbrechen und schließlich selbst noch über den eigenen Tabubruch befreiend
aber stilvoll zu lachen!
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
[Profil]
veröffentlicht am 28. Februar 2009 2009-02-28 16:05:21