Michael Krüger hat mit "Kurz vor dem Gewitter" einen sehr guten
Gedichtband verfasst. In "Schatten und Licht", dem ersten Gedicht,
fasst er die positive Feindschaft zwischen Erkennendem und Erkanntem auf eine
derart nahe liegende Weise in Worte, dass man schnell, begierig, sorglos zu
einem der nächsten Gedichte, zum Beispiel "Rede des Reisenden",
blättert, in dem die charmante Unverbindlichkeit, die allen (Vorüber)reisenden
anhaftet, in leichte, jedem zugängliche Worte eingefangen ist. Hier im ersten
von vier Buchkapiteln dreht sich alles um Reisen, also Reisende, Hotels,
Bahnhöfe, Ankommen, Weiterkommen, Besuche und Abschiednehmen. Die einzigen
Zeilen, über die ich mir auf den insgesamt 111 Seiten nicht klar wurde, stehen
auch hier; "Zwei rote Fische, ein schwarzer" heißen sie, und in ihnen
geht Krüger etwas zu sehr ins Bildhafte, die zu vielen Ideen, die einem zu
diesem Gedicht kommen, stehen sich im Wege. Im zweiten Kapitel Schönes (!),
zugleich Solides und dezent Gewaltiges zu Nacht, Tod, Vergehen, im
"Englischen Garten" wird in unaufdringlicher Dynamik dem Übergang von
Sommer zu Herbst nachempfunden, ähnliches in "Ende des Sommers".
Erleichternderweise spielt Krüger in seinen Gedichten nicht den soziologischen
Übervater, er beanstandet und bemängelt keine gesellschaftlichen Zustände,
nein, seine Gedichte sind berührende Ich- und nicht hohle Man-zeugnisse. In der
"Umfrage" stellt eine Zeitung dem Gedicht-Ich die Frage, ob es seine
Stadt liebe, und anstatt über Man-zustände brütend sitzen zu bleiben, geht es
los in den Park, achtet auf die Bücher, die auf den Tischen der Schlafenden
liegen, postiert sich auf einer Brücke, um deren Vibrieren bei der nächsten
Zugdurchfahrt abzuwarten; Stadtgefühle, Stadtmomente; und "unter der Obhut
des Dunkels schlich ich zurück in mein Zimmer, wo ein Urteil erlaubt
ist.". Das nächste Kapitel versammelt eine Reihe persönlicher, meist
gewidmeter Gedichte. Nachrufe, mal sehr persönlich, mal weniger persönlich,
stehen im vierten und letzten Kapitel.
Fazit
Die Anordnung der Kapitel überzeugt, es geht sukzessive von Unternehmungen und
Reisen über Jahreswechsel und Heimkehr zu Dunkelheit und Mystik bis
schließlich zum Gedenken an Geliebtes. Michael Krüger lebt als Verleger,
Herausgeber einer Literaturzeitschrift und Autor in München; bei Suhrkamp
erschien bereits der Gedichtband "Archive des Zweifels"; "Kurz
vor dem Gewitter" ist eines der stillen Literatur-Großereignisse des
Jahres 2003.
Vorgeschlagen von Paul Niemeyer
[Profil]
veröffentlicht am 22. Oktober 2003 2003-10-22 20:33:57