Der Sinn einer politischen Biographie ist dann erfüllt, wenn neben dem Leben
des zu portraitierenden Politikers dessen Ziele für sein Land herausgearbeitet
werden. Dies ist in der vorliegenden vorzüglichen Biographie über den
russischen Präsidenten Wladimir Wladimoriwitsch Putin gelungen. Ebenso wie die
fast gleichzeitig erschienene Biographie von
Alexander Rahr untersucht diese
Biographie drei Fragen: "Wer ist Putin?" beleuchtet den biographischen
Hintergrund des neuen Präsidenten der größten Nachfolgerepublik der früheren
Sowjetunion, das Kapitel: "Was will Putin", das stärkste Element der
vorliegenden Biographie untersucht die Ziele des russischen Präsidenten:
-starker Staat in Politik und Wirtschaft bei - so Seiffert - Beibehaltung der
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit Rußlands, eine an Rußlands Interessen
orientierte Außenpolitik, die den Großmachtstatus Rußlands in der
multipolaren Welt (diesen Begriff führte insbesondere der frühere langjährige
Außenminister und kurzzeitige Ministerpräsident Primakow ein) wahren bzw.
wiedergewinnen will. Putin sei ein Anhänger der "russischen Idee". In
Anlehnung an Sonja Margolina: "Rußland, die nichtzivile Gesellschaft"
wird als russische Idee die Verquickung folgender Elemente verstanden: Rußlands
geopolitische Lage, seine spezifische Staatlichkeit, sein Großmachtbewußtsein
und seine Mission, die Völker Rußlands aufzuklären und zu zivilisieren,
"Europäer für die Asiaten zu sein". In der Außenpolitik
prognostiziert Seiffert eine auf "Festigung der Position Rußlands als
Supermacht" (Rogozin) angelegte Interessenpolitik, die Konflikte mit dem
Westen nicht scheut, allerdings mit diesem - so weit wie möglich -
Zusammenarbeit anstrebt. Dies bedeute eine stärkere Orientierung nach Asien,
etwa Vietnam und Nordkorea, auch die Beziehungen zur GUS würden unter Putin
vermutlich forciert werden. Faustregel sei, das "jede Zusammenarbeit mit
dem Westen möglich ist, die das russiche Ziel eines eurasischen Kontinents,
dessen Herz Rußland ist, fördert oderwenigstens nicht stört" (S. 94). In
der Wirtschaft werde es einen stärkeren Staatseinfluß ohne Rückkehr zur
Planwirtschaft geben, der Einfluß der Oligarchen werde daher begrenzt werden,
das Zentrum werde zuungunsten der Regionen gestärkt werden. Dies könne die
Schaffung einer umfassenden Finanzverfassung bedeuten, die auf den Rubel und
nicht auf die Zweitwährung Dollar setze. Hinter Putins Programm stünden der
Geheimdienst und die Spitzen der Armee, die am besten über die Lage des Landes
im innern und äußeren Bescheid wüßten. Vorbild Putins hierbei sei der
frühere KGB- und Kremlchef Jurij Andropow (1982-84). Ob sich dieses ehrgeizige
Programm umsetzen läßt, untersucht Seiffert im dritten Teil: "Was kann
Putin". Er konstatiert in Anlehnung an Milovan Djilas, Imperien seien teuer
und bezweifelt, ob in einer Welt der Globalisierung der verstärkte Einsatz des
Staates in der Wirtschaft eine positive Wirkung erzielen könne (S.97). Seiffert
kritisiert in diesem Zusammenhang sowohl die Politik des IWF wie auch die
Politik des Westens insgesamt, der Rußlands legitime Interessen mißachte und
dieses - siehe Kosovo-Krieg - kleinhalten wolle, was bei der russischen Elite zu
verbitterten antiwestlichen Reaktionen geführt habe, für die Seiffert
Verständnis zeigt. Seiffert vermisst eine an langfristigen Konzepten und
Analysen ausgerichtete westliche Rußland-Politik. Ein hervorragender
Anmerkungs- und Quellenapparat samt den Schlüsselreden Putins und der
Abschiedsrede Jelzins am 31.12.1999 belegen die Thesen des bekannten
Rußland-Experten. Während Rahrs Biographie stärker Kindheit und Aufstieg
Putins beleuchtet und eine Bilanz der Jelzin-Jahre darstellt (und insofern
unverzichtbar ist), ist die vorliegende Biographie unverzichtbar für alle, die
eine Analyse von Putins zukünftiger Politik erfahren wollen. Durch den
Quellenapparat sind alle Feststellungen Seifferts - der wie Rahr ein äußerst
positives Bild des als nüchtern und kompetent dargestellten Präsidenten
schreibt - belegt und nachvollziehbar. Profund sind seine Kenntnisse der
rechtlichen Institutionen Rußlands. Seiffert war bis zu seiner Pensionierung
Professor für Osteuropäisches Recht an der Universität Kiel und lehrt nun in
Moskau Russisches und Europäisches Recht. Seiffert belegt auch, dass sich
Rußland in den vergangenen 10 Jahren mehr zu einem Rechtsstaat mit
funktionierenden Institutionen gewandelt hat, wie dies andere Kremlexperten
konstatiert hatten. Die Auffassungen über Tschetschenien stellen die russische
Sicht dar und differenzieren mir zu ungenügend, da die Leiden des
tschetschenischen Volkes von Seiffert ignoriert werden. Kritik an der russischen
Tschetschenienpolitik wird - mir daher zu pauschal - als Einmischung in
russische Angelegenheiten abgetan, zu der der Westen - nach seinem
völkerrechtswidrigen Vorgehen im Kosovo - nicht berechtigt sei. Auf die Frage
der Rolle des FSB bei der Tschetschenienkrise geht er aber - im Gegensatz zu
Rahr - nicht ein.
Fazit
Eine hervorragende Biographie Putins, die seine zukünftigen Ziele analysiert.
Seifferts Buch stellt für mich die beste Analyse der zu erwartenden russischen
Politik unter Putin dar, die ich gelesen habe; Rahrs Werk demgegenüber die
beste Analyse der Jelzin-Jahre. Beide Werke sind daher uneingeschränkt zu
empfehlen. Beide Autoren sehen in Putin auch einen Hoffnungsträger. Hoffentlich
behalten sie recht.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
[Profil]
veröffentlicht am 10. Mai 2003 2003-05-10 08:30:58