Mit der gnadenlosen Sozialismuskritik "Die Alternative" wurde Rudolf
Bahro 1977 weltweit bekannt. Das SED-Regime verurteilte ihn daraufhin zu einer
Haftstrafe und wies ihn nach Westdeutschland aus. Das bedeutete aber nicht, daß
er dort sich pfleglich ins wissenschaftliche Establishment der
nachkriegsdemokratischen Banalität einordnete. Nein! Es ging ihm weiter um
mehr, um wahres und unabhängiges Denken. Es ging ihm um eine Reduzierung des
Primats der Ökonomie: "Kommunismus ist zunächst das Prinzip einer
vergleichsweise unwichtigen Ökonomie." - So schrieb er in seinem Nachlaß
ganz konkret.
Es folgte 1987 sein zweites Hauptwerk "Logik der Rettung". Nach der
Wende kehrte der Kritiker nach Ostberlin zurück und baute an der
Humboldt-Universität, wo er selbst von 1954 bis 1959 Philosophie studierte, das
Institut für Sozialökologie auf. Es ging ihm stets um eine gedankliche
Neugründung der Gesellschaft mit folgenden Grundforderungen: Priorität der
ursprünglichen Zyklen des Lebens, Wirtschaft nicht als dominierender
Seinsbereich, einfacher und schöner Lebensstiel, neue Sittlichkeit und
Ritualisierung der Konfliktbehandlung unter den Menschen. Mit Beginn des
Wintersemesters 1990/91 hielt Bahro unter großem Publikumsinteresse
Vorlesungen, in denen er seine verfassten Thesen ungehemmt weiterentwickelte und
auch das Prinzip "Nation" integrierte. Damit zeigt er natürlich eine
größere Erfahrungs- und Denktiefe, einen integralen Anspruch auf, der zur
Rettung keinen Bereich des Denkens ausschloß.
Ein Überblick über seine mehr als 60 Vorlesungen dieser Zeit befindet sich im
vorliegenden Buch. Guntolf Herzberg hat auf Anregung des Rudolf-Bahro-Archivs
dessen Nachlaß gesichtet. Der Autor der 2002 erschienenen Bahro-Biographie hat
schließlich diesen Sammelband vorgelegt, der sich dem enorm kreativen Spätwerk
des Philosophen widmet. Neben Extrakten aus seinen Vorlesungen enthält es auch
einen längeren Essay aus dem Jahr 1995, den Herzberg als sein drittes Hauptwerk
bezeichnet sowie Reden, Interviews und Aufsätze. Das Buch zeigt optimal,
welchen Denkweg Bahro als Professor der Humboldt-Universität in den 90er Jahren
nahm.
So hielt Bahro Mitte der neunziger Jahre auch Vorlesungen über den Hyperion von
Friedrich Hölderlin. Hölderlins Beitrag zu einer "künftigen Revolution
der Gesinnungen und Vorstellungsarten", gar zu einer politischen Revolution
stand stets im Mittelpunkt. Einmalig dabei ist Bahros Fähigkeit, zwischen
"rechts" und "links", auch Religion und Politik zu
changieren. Das mag den brav geschulten und mit dem üblichen Feindbild gegen
"rechts" geimpften Durchschnittsbundesbürger überfordern, hielt aber
Bahro niemals davon ab, zu fordern, die PDS solle sich an Martin Heidegger, an
Friedrich Nietzsche orientieren. Ein besonderes Thema war ihm Hölderlins
Gedicht "Tod fürs Vaterland", aus dem er das Ziel eines gesunden
Deutschlands ableitete und zu folgender innovativen Ansicht gelangt:
"Die Hitlerei war in Deutschland war so mächtig, daß es ihr gelungen ist,
praktisch alles, was auch irgend im Dunstkreis deutscher Seele, deutschen
Geistes sein Wesen trieb, Gutes und Böses, zusammenzuraffen. Das muß
durchbrochen werden."
Bei der Frage nach der politischen Verfassung einer Gesellschaft, die im
Einklang mit der Natur lebt, statt sie zu vergewaltigen, geht es ihm also
ausdrücklich um das vaterländische Thema, den deutschen Befeiungsgedanken,
geprägt von Johann Gottlieb Fichte. Diesen Gedanken trägt derjenige in sich,
der auf verlorenem Posten steht, so wie Bahro am Ende. Im Kampf gegen den
"schrankenlosen technischen Fortschritt" läßt Bahro zuletzt Pascal
sprechen: "Der Mensch übersteigt unendlich den Menschen". Bahros
Hauptidee zur neuen Verfassung, der Ökologische Rat, läßt ganz verschiedene
Schlußfolgerungen zu, und er sagt selbst, es müsse "in jeder
überlieferten Kultur anders" entschieden werden, "ob der oder die
Einzelne nun durch Wahl oder durch Berufung dazugehören soll".
Die Texte Bahros lesen sich als Suche nach einer Antwort auf die falsche,
subjektivistische "Lösung" der Moderne. In diesem Versuch einer
Rettung der Moderne liegt für ihn persönlich das eigentlich
geistesgeschichtlich Anstößige und aufregend Denkanstößige einer Neuordnung
des sozialen Ganzen. Gerade Hegel, Hölderlin und Schelling dienen ihm hier zur
Anknüpfung.
Insgesamt eröffnet das Buch eine erfreuliche Dimension im Denken eines großen
deutschen Denkers. Vor der Wahl zwischen Weltmarkt oder ökologische Wende
stehend, wußte er mit Friedrich Schiller: "Die Menschen finden sich in ein
verhaßtes Müssen weit besser ein als in eine schwere Wahl."
Dennoch drängt Bahro auf die "schwere Wahl" - auf eine
anthropologische Revolution - eine neue Lebenspraxis, auf ein Hinauswachsen
über die Schwerkraft der Normalität und betont, daß im deutschen
Nationalsozialismus viel vom Besten der Deutschen zum Bösesten geraten ist. Er
appelliert wieder an die Widerstandsfähigkeit der Deutschen gegenüber
unrealisierbaren Glücksversprechungen, gegen grenzenlosen Konsum, das
Umweltsterben, gegen das Sterben sozialer Zusammenhänge und der Dekadenz einer
selbstgenügsamen bürgerlichen Klasse, die glaubt, mit immer mehr Wachstum der
Wirtschaft und konstruierten Genußansprüchen eine abschließende Lösung auf
die Anomie des Sozialen gefunden zu haben. Bahro sprach hingegen von der neuen
Konservativen Revolution, die die Substanz des Menschen bewahren müsse, das
Sich-Beschränken, die deutsche Tugend der Enthaltsamkeit und des Fleißes zur
Bewahrung des Seienden:
"Für die ökologische Wende kommt es auf den richtigen Konservatismus
an."
Fazit
In der absoluten Krise kommentiert er nur folgerichtig die naive Vermutung, die
Nation sei ein "rechtes" Thema erfahrungsgemäß lakonisch: "Es
gibt keine rechten Themen!" Man wird als Leser den Eindruck nicht los, als
riefe hier einer einen fruchtbaren, innovativen Ansatz hinein in die Krise und
an das Volk, von dem sich herausstellt, daß man - wie einst auch Hölderlin
verzweifelt in seinem "Hyperion" - an eine desinteressierte
Räuberbande appelliert!
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
[Profil]
veröffentlicht am 08. Februar 2009 2009-02-08 10:51:55