Wenn ich bislang über meine schönste Liebesgeschichte in der Weltliteratur
befragt wurde, so war Aitmatovs "Dschamilia" das Werk, welches mich am
meisten beindruckt hatte. In diesem Jahr ist es Siegfried Lenz gelungen, mit
"Schweigeminute" eine Novelle vorzulegen, die mich ebenso stark
beeindruckt und in letzter Zeit das Buch ist, welches mich am meisten emotional
gepackt hat.
In "Schweigeminute" wird zu Beginn die Gedenkstunde eines Gymnasiums
an eine verstorbene junge Englischlehrerin namens Stella erinnert. Auch der
18-jährige Schüler Christian nimmt an diesem Ereignis teil. Die Bitte des
Schulleiters, als Klassensprecher einige Worte über seine verstorbene Lehrerin
zu sagen, kommt er nicht nach. Er kann es nicht. Denn die Erinnerungen an seine
Lehrerin, in die er verliebt war, sind zu stark. Er möchte nicht von seinen
privaten Erinnerungen und seinem Kummer über ihren Tod übermannt werden. So
übernimmt es der klassenbeste Schüler, Georg, an seiner Stelle eine Rede auf
die verstorbene junge Lehrerin zu halten, während Christian seinen Gedanken
nachhängt und während der Gedenkstunde in Rückblenden über seine Liebe zu
der Lehrerin erzählt. Christian ist Sohn eines Steinfischers und hilft seinem
Vater in diesem schweren Beruf. Dieser Beruf - die Steine sollen vor den
schweren Wellen schützen - verbindet den Jungen mit dem Meer, dessen Element
immer wieder bewzungen werden muss. Das Meer ist auch "Lebenselixier"
seiner Lehrerin, die eine gute Schwimmerin ist. Möglicherweise ist es diese
Liebe zu Natur und Meer - es wird in der Geschichte nur angedeutet - die aus dem
Lehrer-Schüler-Verhältnis "mehr" werden lässt: allmählich
entwickelt sich ein Liebesverhältnis, denn nicht nur Christian ist in seine
Lehrerin verliebt; auch diese empfindet Zuneigung für ihren Schüler. Beide
verbringen mehr und mehr Zeit miteinander, Christians Eltern tolerieren die
erste Liebe ihres Sohnes und halten sie für einen vorübergehenden Zustand.
Dies bleibt sie auch. Doch dies liegt daran, dass die Lehrerin auf der Rückkehr
von einem Ferienaufenthalt mit einem kleinen Schiff in ein schweres Unwetter
gerät und - durch einen Fehler der Besatzung - über Bord gespült und dabei
lebensgefährlich verletzt wird. Kurz darauf verstirbt Stella im Krankenhaus und
für den verzweifelten Christian ist seine erste Liebe unwiederbringlich
verloren.
"Unwiederbringlich" ist der Titel einer Erzählung von Theodor Fontane
und zeitweise fühlte ich mich an diesen - aber noch mehr an Theodor Storm und
seine melancholischen Erzählungen erinnert. Lenz, der Storms literarisches Werk
mag, ist sicherlich von ihm beeinflusst worden. Nie wird er direkt - ich habe
das Gefühl, dass er wie ein entfernter Beobachter das Liebespaar aus der
Distanz heraus beschreibt; eine bestimmte Distanz wird in dieser Geschichte
niemals überschritten. "Wir liebten uns" ist alles, was sich Lenz an
"Intimitäten" erlaubt, obwohl er in Ich-Form - aus der Perspektive
Christians - schreibt. Gerade diese - respektvolle - Distanz ist es meines
Erachtens, die die Meisterschaft dieser Novelle begründet, weil sie feinfühlig
eine Grenze nicht überschreitet - und damit der Fantasie des Lesers Raum lässt
für eigene Vorstellungen und Träumereien. Die Ich-Form der Erzählung lädt zu
Identifikation mit dem Protagonisten Christian förmlich ein; dennoch bleiben
beide Hauptfiguren - Christian selber wie auch Stella - dadurch, dass vieles von
Lenz in dieser Novelle nur angedeutet und nicht ausgewalzt wird, zwar in
gewisser Weise blass; dies hilft aber dem Leser, eigene Vorstellungen über
dieses beiderseitige Liebesverhältnis zu entwickeln, ohne durch zu starke
Beschreibungen des Autors in seiner Phantasie "eingeschränkt" zu
werden; ich glaube, dass es diese "erzähltechnische Distanz" - diese
Meisterschaft der andeutenden, stärker lakonischen Erzählweise ist, die mich
beeindruckt hat; neben dem Grundton der Melancholie, der diese Geschichte, deren
tragischen Ausgang der Leser vom ersten Satz an kennt, prägt und der -
zumindest mich - zutiefst berührt hat, führt gerade diese Distanz, die
Weigerung des Autors, das Intimste dieser Liebebeziehung preiszugeben, dazu,
dass sich der Leser in diese Figuren hineinversetzen und mit Christian, dem
Protagonisten, zutiefst mitleiden kann.
Fazit
So jedenfalls ist es mir gegangen und es ist schwer, die Wirkung dieser
Erzählung in Worte zu fassen; sie hat mich - aus den genannten Gründen -
zutiefst beeindruckt und ist meines Erachtens ein Meisterwerk - unbedingt
empfehlenswert.
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
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veröffentlicht am 04. Februar 2009 2009-02-04 22:45:51