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Siegfried Lenz: Schweigeminute

Schweigeminute

von Siegfried Lenz
Verlag: Hoffmann und Campe [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Belletristik
ISBN-13 978-3-455-04284-9

Preis: 15,95 Euro bei Amazon.de [Stand: 24. Dezember 2024]
Wenn ich bislang über meine schönste Liebesgeschichte in der Weltliteratur befragt wurde, so war Aitmatovs "Dschamilia" das Werk, welches mich am meisten beindruckt hatte. In diesem Jahr ist es Siegfried Lenz gelungen, mit "Schweigeminute" eine Novelle vorzulegen, die mich ebenso stark beeindruckt und in letzter Zeit das Buch ist, welches mich am meisten emotional gepackt hat.

In "Schweigeminute" wird zu Beginn die Gedenkstunde eines Gymnasiums an eine verstorbene junge Englischlehrerin namens Stella erinnert. Auch der 18-jährige Schüler Christian nimmt an diesem Ereignis teil. Die Bitte des Schulleiters, als Klassensprecher einige Worte über seine verstorbene Lehrerin zu sagen, kommt er nicht nach. Er kann es nicht. Denn die Erinnerungen an seine Lehrerin, in die er verliebt war, sind zu stark. Er möchte nicht von seinen privaten Erinnerungen und seinem Kummer über ihren Tod übermannt werden. So übernimmt es der klassenbeste Schüler, Georg, an seiner Stelle eine Rede auf die verstorbene junge Lehrerin zu halten, während Christian seinen Gedanken nachhängt und während der Gedenkstunde in Rückblenden über seine Liebe zu der Lehrerin erzählt. Christian ist Sohn eines Steinfischers und hilft seinem Vater in diesem schweren Beruf. Dieser Beruf - die Steine sollen vor den schweren Wellen schützen - verbindet den Jungen mit dem Meer, dessen Element immer wieder bewzungen werden muss. Das Meer ist auch "Lebenselixier" seiner Lehrerin, die eine gute Schwimmerin ist. Möglicherweise ist es diese Liebe zu Natur und Meer - es wird in der Geschichte nur angedeutet - die aus dem Lehrer-Schüler-Verhältnis "mehr" werden lässt: allmählich entwickelt sich ein Liebesverhältnis, denn nicht nur Christian ist in seine Lehrerin verliebt; auch diese empfindet Zuneigung für ihren Schüler. Beide verbringen mehr und mehr Zeit miteinander, Christians Eltern tolerieren die erste Liebe ihres Sohnes und halten sie für einen vorübergehenden Zustand.

Dies bleibt sie auch. Doch dies liegt daran, dass die Lehrerin auf der Rückkehr von einem Ferienaufenthalt mit einem kleinen Schiff in ein schweres Unwetter gerät und - durch einen Fehler der Besatzung - über Bord gespült und dabei lebensgefährlich verletzt wird. Kurz darauf verstirbt Stella im Krankenhaus und für den verzweifelten Christian ist seine erste Liebe unwiederbringlich verloren.

"Unwiederbringlich" ist der Titel einer Erzählung von Theodor Fontane und zeitweise fühlte ich mich an diesen - aber noch mehr an Theodor Storm und seine melancholischen Erzählungen erinnert. Lenz, der Storms literarisches Werk mag, ist sicherlich von ihm beeinflusst worden. Nie wird er direkt - ich habe das Gefühl, dass er wie ein entfernter Beobachter das Liebespaar aus der Distanz heraus beschreibt; eine bestimmte Distanz wird in dieser Geschichte niemals überschritten. "Wir liebten uns" ist alles, was sich Lenz an "Intimitäten" erlaubt, obwohl er in Ich-Form - aus der Perspektive Christians - schreibt. Gerade diese - respektvolle - Distanz ist es meines Erachtens, die die Meisterschaft dieser Novelle begründet, weil sie feinfühlig eine Grenze nicht überschreitet - und damit der Fantasie des Lesers Raum lässt für eigene Vorstellungen und Träumereien. Die Ich-Form der Erzählung lädt zu Identifikation mit dem Protagonisten Christian förmlich ein; dennoch bleiben beide Hauptfiguren - Christian selber wie auch Stella - dadurch, dass vieles von Lenz in dieser Novelle nur angedeutet und nicht ausgewalzt wird, zwar in gewisser Weise blass; dies hilft aber dem Leser, eigene Vorstellungen über dieses beiderseitige Liebesverhältnis zu entwickeln, ohne durch zu starke Beschreibungen des Autors in seiner Phantasie "eingeschränkt" zu werden; ich glaube, dass es diese "erzähltechnische Distanz" - diese Meisterschaft der andeutenden, stärker lakonischen Erzählweise ist, die mich beeindruckt hat; neben dem Grundton der Melancholie, der diese Geschichte, deren tragischen Ausgang der Leser vom ersten Satz an kennt, prägt und der - zumindest mich - zutiefst berührt hat, führt gerade diese Distanz, die Weigerung des Autors, das Intimste dieser Liebebeziehung preiszugeben, dazu, dass sich der Leser in diese Figuren hineinversetzen und mit Christian, dem Protagonisten, zutiefst mitleiden kann.
Fazit
So jedenfalls ist es mir gegangen und es ist schwer, die Wirkung dieser Erzählung in Worte zu fassen; sie hat mich - aus den genannten Gründen - zutiefst beeindruckt und ist meines Erachtens ein Meisterwerk - unbedingt empfehlenswert.
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Vorgeschlagen von Bernhard Nowak [Profil]
veröffentlicht am 04. Februar 2009

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