Jordan lebt in der Jugendwohngruppe einer katholischen Organisation in Berlin.
Der 17-Jährige stammt ursprünglich nicht aus Berlin. Nach seinen Erinnerungen
scheint Jordan unter traumatischen Umständen seine Familie verloren zu haben.
Die Erinnerungen sind Jordans Problem. Schon mehrmals fand er sich an einem
unbekannten Ort wieder, wusste weder wie er dort hin gekommen war noch, was in
der Zwischenzeit passiert sein könnte. Wegen seiner Blackouts und seiner
dissoziativen Störung ist Jordan in therapeutischer Behandlung. Die acht
Mitglieder seiner Wohngruppe nehmen gemeinsam an einer Gruppentherapie teil,
Jordan wird zusätzlich in Einzelsitzungen therapiert. Jordans Therapeut
arbeitet wie ein "Jäger nach der verlorenen Zeit" mit dem Jungen
behutsam heraus, welches Ereignis zu Jordans Erinnerungslücke geführt haben
könnte. Jordan erzählt dem Doc nur Dinge, von denen er glaubt, dass der
Therapeut sie verkraften kann. Die Leser, die die Geschehnisse aus Jordans
Perspektive verfolgen, sind der Handlung stets einige Schritte voraus, wissen
stets mehr als Jordan seinem Therapeuten preisgibt. Durch dieses Stilmittel
bricht auf den Leser das schwer erträgliche Schicksal eines durch Misshandlung
traumatisierten Kindes herein. Jordan wirkt sehr sympathisch, sehr offen, er
erzählt so beiläufig von seinen grausamen Erlebnissen, dass man meinen
könnte, so etwas wäre normal. "In der Gruppenstunde ist immer so was wie
ein Psycho-Striptease... der Doc gibt uns das Gefühl, dass das alles völlig
normal ist - saufende Mütter, die tagelang nur im Bett liegen, Kinder, die in
ihrem Leben durch acht verschiedene Pflegefamilien gereicht wurden, 14-jährige,
die ihre kleine Schwester klöppeln, heroinabhängige Viertklässler und das
erste selbstverdiente Geld für einen Blowjob auf dem Bahnhofsklo." Wenn
Jordan gerade keine Therapiesitzung hat und sich mit dem normalen Alltag
zwischen Schule und Haushaltsdiensten herumschlägt, kann man beim Lesen
förmlich erleichtert aufatmen. Als Leser überblickt man aus Jordans
Perspektive, was er seinem Therapeuten bisher verschwiegen hat. Jordans
Taktieren ist nicht ungefährlich. Weil er sich während seiner Aussetzer selbst
gefährdet, müsste der Doc ihn in die Psychiatrie einweisen. Die Schilderung
von Jordans Erkrankung hat ihre komischen Seiten; denn auch nach einem seiner
Aussetzer hat sich natürlich Jordans Küchenarbeit nicht von allein
erledigt.
Als wäre Jordans eigene Situation nicht belastend genug, muss er zusätzlich
die Macken und Probleme der anderen Jungen ertragen. Jordan zeigt dabei einen
ausgesucht morbiden Humor und geradezu rührende Einfühlung in die Schicksale
seiner Mitbewohner. Die Beziehungen der Jugendlichen untereinander sind
gespannt; denn Jordans Macken und Aussetzer bringen ihm nach Einschätzung der
anderen Jungen zuviel Aufmerksamkeit der Erwachsenen ein. Manipuliert das
schlaue Kerlchen die Erwachsenen etwa ganz subtil? Laurin, der Erzieher der
Wohngruppe vom Typ hipper Theaterregisseur hat es nicht leicht mit seinen Jungs.
Jordans Verhalten in der Gruppe nimmt er gelassen, auch wenn es schwer fällt.
Als Jordan sich für Natalie interessiert, macht die ihm schnell klar, was Sache
ist. Sie findet, dass dieser abgefahrene Typ ihr etwas verheimlicht und genau
das wird Natalie auf keinen Fall akzeptieren, wenn sie einen Jungen liebt. Falls
es Jordan ernst ist mit Natalie, muss er Schluss machen mit seinen taktischen
Spielchen und sich dem Auslöser seiner psychischen Störung endlich stellen.
Jordans Schicksal haut einen beim Lesen kräftig aus den Schuhen. Sein
dramatisches Schicksal ist nur zu ertragen, weil der Typ so sympathisch,
rührend und sehr, sehr witzig ist. Ist diese Anhäufung von traumatischen
Erlebnissen in Jordans Kindheit nicht übertrieben? Sie ist es nicht; denn
Kinder mit Problemen, die in einer therapeutischen Einrichtung untergebracht
werden, kommen häufig aus Multi-Problem-Familien, wie der Autor hier schildert.
Wegberg zeigt, dass es in Deutschland keine Waisenkinder mehr gibt, so wie viele
sie sich vorstellen, stattdessen Kinder, die nicht bei Ihrer Familie leben
können. Viele von ihnen haben - wie Jordan - so viele und so komplizierte
Probleme, dass sie von Therapeuten und Pädagogen betreut werden müssen. Die
fürsorgliche und sehr direkte Art, in der der Doc sich Jordan zuwendet, lässt
uns als Leser Psychotherapie als etwas ganz Alltägliches erleben. T. A. Wegberg
beschreibt fachkundig und mit großer Einfühlung, wie es ist, wenn man Angst
hat, verrückt zu sein. Er entlarvt Vermeidungsstrategien, mit denen
traumatisierte Opfer häuslicher Gewalt nach außen um jeden Preis das Bild
einer heilen Familie aufrecht erhalten wollen.
Fazit
T. A. Wegbergs lebensnahe Schilderung einer Jugendwohngemeinschaft hat mich in
diesem fesselnden Jugendroman am stärksten berührt. Das Verhältnis zwischen
Jordan, den Jungen, seinem Erzieher Laurin und dem Doc finde ich ungewöhnlich
authentisch und mitreißend geschildert. Der Autor arbeitet ehrenamtlich bei
einer Jugend-E-Mail-Hotline und kennt die Schicksale, die er beschreibt, aus
eigenem Erleben. Sprachlich und inhaltlich wirklich ein besonderes Buch, das den
Leser so schnell nicht loslässt.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 01. Februar 2009 2009-02-01 16:07:17