Toleranz dient den verschiedenen Interessen der Unterdrückung. Sie ist kein
Selbstzweck, sondern wird hinsichtlich der etablierten Politik zum
Zwangsverhalten. So wird die ohnmächtige Toleranz gegenüber dem Betrug zum
Wesen des herrschenden Systems, das Toleranz fördert als ein Mittel, den Kampf
ums Dasein zu verewigen und Alternativen zu unterdrücken. - Diese
Überzeugungen vertrat der Philosoph Herbert Marcuse. Er war der Meinung, daß
die Toleranz die reproduzierte Wirklichkeit der etablierten Maschinerie
schützt. Mit Blick auf die Gegenwart hätte Marcuse wohl auch folgende Merkmale
des herrschenden Sicherheitsstaates ausmachen können: Soziale Desintegration,
Dominanz des Sicherheitsapparates, Wandel innerhalb des formellen bürgerlich -
demokratischen Institutionengefüges, Verwaltung von Problemen und das Ausmerzen
von Spannungen durch das Verbot der Artikulation derselben, und zwar durch den
institutionellen Zugriff auf den Menschen.
Kurz: Wuchernde Normalitäts- und Kontrollansprüche riegeln das System der
Politik ab.
Es verwundert angesichts dieser Grundhaltung nicht, daß Marcuse als
versiertester Kritiker des Kapitalismus und Vertreter der internationalen
Befreiungsbewegung gilt. Er formuliert nunmehr in seinem vorliegenden Versuch
über die Befreiung einen der wichtigsten Beiträge zur Theorie der Gesellschaft
der sechziger Jahre. Marcuses Essay "Versuch über die Befreiung",
jetzt in der Reihe Suhrkamp 1968 neu aufgelegt, ist ein überzeugendes Dokument,
um den Kapitalismus einer kritischen Betrachtung zu unterziehen. Manche der
Thesen findet noch heute durchaus Bestätigung, etwa wenn er schreibt: "Die
‚bösen’ Wörter sind a priori für den Feind reserviert."
Diese Eindimensionalität im Verhalten ist immer die negative Seite in der
Dialektik des Fortschritts. Die moderne Gesellschaft lebt mit der latenten
Gefahr des Verlustes bürgerlicher Freiheiten. Das ist eine permanente
Irrationalität, von der es sich für Marcuse zu befreien gilt. Das Elend und
die Vernichtung gehen parallel einher mit dem Aufbau eines Hyperwohlstandes, was
genau dieser rationalen Irrationalität gleichkommt. Doch die Befreiung steht
vor einem großen Problem: Es wird endlos der Status quo zementiert; es gibt
keinen Fortschritt, sondern die permanente Stagnation, die nur als Bewegung und
damit als Freiheit erscheint. Arnold Gehlen nannte diesen Zustand trefflich die
‘Kristallation’ als Verlust der "großen Schlüsselattitüde" und
schöpferischer Kreativität. Nur der Intellektuelle kann für Marcuse die
Alternative denken und eine exklusive Opposition dazu überhaupt aufweisen.
Davor durchlebt er eine Situation der Entscheidung, wie sie Heidegger
postulierte. Marcuse:
"Alle Befreiung hängt vom Bewußtsein der Knechtschaft ab, und das
Entstehen dieses Bewußtseins wird stets durch das Vorherrschen von
Bedürfnissen und Befriedigungen behindert, die in hohem Maße die des
Individuums geworden sind. (...) Das optimale Ziel (...) ist der Verzicht auf
die repressive Befriedigung."
So gibt es Entscheidungssituationen, die Marcuse als Situationisten aufscheinen
lassen und auf Basis situativer Einmaligkeit eine ebenso einmalige Entscheidung
erfordern. Das Buch ist Ausdruck dafür, wie die Sehnsucht und die Utopie stets
über die Faktizität der Angst hinweghelfen. Träumte man zwar in den siebziger
Jahren noch den Traum von der arbeitsfreien Gesellschaft, hat sich diese Utopie
zum Alptraum entwickelt. Heute rückt wieder die Frage in den Vordergrund, ob
nicht doch die Arbeit das Leben bestimme und sei es auch nur in der subjektiven
Wahrnehmung.
Dennoch: Die große Freiheit des Kapitalismus - es gibt sie für Marcuse nicht.
Unter diesen Bedingungen ist vorliegende kritische Betrachtung des Kapitalismus
nicht nur wünschenswert, sondern geradezu unabdingbar. Anregungen für eine
solche Debatte gibt Marcuses Essay genug, das Diskutieren seiner Thesen über
den Kapitalismus und seine gesellschaftlichen Effekte im Hier und Heute ist
Aufgabe einer reflektierenden Gesellschaft. Die enthaltene DVD, ein
Studiogespräch aus dem Jahr 1976 mit Herbert Marcuse über die Vision einer
herrschaftsfreien Gesellschaft, untermauert den Text anschaulich.
Herbert Marcuse, geboren 1898 in Berlin und als Mitarbeiter des Frankfurter
Instituts für Sozialforschung sowie Mitbegründer der Kritischen Theorie der
Gesellschaft arbeitete für den amerikanischen Geheimdienst, um die
Kriegsanstrengungen der Alliierten gegen Deutschland zu unterstützen. Nach dem
Ende des Krieges kehrt er nicht, wie Horkheimer und Adorno, nach Europa zurück,
sondern lehrt an verschiedenen Universitäten der USA. Hier lernt er praktisch
kennen, was ihn philosophisch beschäftigte: Die Entsolidarisierung der Klassen,
ihre innere Auflösung und Abhängigkeit vom Staat. Sie werden zergliedert zu
einem Massencharakter über die Vereinzelung als Konsument, Zuschauer und
Käufer, Wähler und Kunde. Je mehr also die Ratlosigkeit herrscht, um so mehr
wird sie durch Feste und "Events" kompensiert. Die moderne Propaganda
des politischen Events und der Festmeile lebt von der Theatralisierung der
politischen Ereignisse und von moralistischen Ritualen.
Mit diesen Mitteln, die allein der eigenen Affirmation dienen sollen, arbeitete
bereits nach Marx die bonapartistische Diktatur. Szenen sollten eine zweite
Wirklichkeit schaffen und die Loyalität reanimieren. Worte und Begriff bilden
einen bildhaften Charakter und laden zur Identifizierung ein. Die politische
Reflexion ging verloren, Einzelne wurden Gruppe, Masse, Spieler, Trommler und
als solche Bestandteil der herrschenden Politik. Aus dieser Anomie gibt es
keinen Ausweg, wie ihn eine einfache Krise noch kennt. Mit seinem Versuch über
die Freiheit möchte Marcuse genau dieser geistigen Anomie entgegengetreten,
denn wer sich frei fühlt, ist motiviert und glücklich. -
Fazit
Es liegt hiermit eine überzeugende Schrift vor.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
[Profil]
veröffentlicht am 01. Februar 2009 2009-02-01 10:41:29