Das Mädchen mit dem altmodischen Koffer ist nicht abgeholt worden. Franziska
Mangold aus Berlin wurde 1939 mit einem der letzten Kindertransporte aus
Deutschland nach England evakuiert. Ein ganzer Zug mit Kindern war in London
angekommen, viele von ihnen zum ersten Mal im Leben von ihren Eltern getrennt,
jedes mit einem kleinen Koffer und einem Pappschild um den Hals. In Berlin und
Hamburg hatten sich Eltern und Kinder voneinander verabschiedet, ohne zu wissen,
ob sie sich je wiedersehen würden. Am Bahnhof Liverpool Street werden viele der
Kinder bereits von einer Pflegefamilie erwartet. Franziska kommt zunächst in
ein Auffanglager. Die Kindheit der Elfjährigen scheint von einem Tag auf den
anderen zu Ende zu sein. Was kurz zuvor noch wie ein Spiel schien, ist für
Franziska Realität geworden. In Berlin hatte sie mit ihrer besten Freundin
Bekka Flucht gespielt und sich ausgemalt, wie es sein würde, in einem fremden
Land zu leben. Durch einen Zufall findet Franziska doch noch eine englische
Pflegefamilie. Eine ihrer ersten Fragen an ihre Pflegemutter Amanda ist, wo man
sich denn hier in London verstecken könnte. Amanda Shephard ahnt noch nicht, in
welchem Maße diese neu gefundene Familienmitglied das Leben der Shephards auf
den Kopf stellen wird. Franziska, nun Frances, ist konsterniert: In Deutschland
musste man seinen Glauben verbergen und die Shephards feiern ihr Jüdischsein
sogar! Die Mangolds lebten in Berlin unauffällig als assimilierte Juden. Ihre
Tochter hat vorher noch nie Jiddisch gehört, die Bräuche der orthodoxen
Shephards sind ihr fremd. Gary Shephard, Amandas Sohn, macht es sich mit Sinn
für Humor zur Aufgabe, aus Frances eine richtige Jüdin zu machen. Seine Eltern
sollen sich wundern und stolz auf Frances sein. Frances ist bei den liebevollen
Shephards in Sicherheit. Sie fühlt, dass sie eine andere Franziska ist als in
Deutschland, wird geplagt von Schuldgefühlen ihren Eltern gegenüber und auch
gegenüber Bekka, deren Platz im Kindertransport Franziska eingenommen hat.
Warum hat sich Franziskas Mutter bloß entschieden, die Schiffskarten nach
Shanghai zurückzugeben und ihre Tochter fort zu schicken?
Schon in Deutschland hatten jüdische Mitschüler Franziska von evakuierten
Kindern erzählt, die ihre Eltern nach London nachholen konnten. Franziska
beginnt, emsig für ihre Eltern eine Arbeitsstelle zu suchen und gerät dabei in
manch tragikomische Situation. Auch für Walter Glücklich, den Franziska aus
dem Kinderzug kennt, sucht die Pflegetochter der Shephards nun eine Unterkunft.
Franziskas halbwegs normale Kindheit bei den Shephards findet mit Beginn des
Zweiten Weltkriegs ein Ende, als ihre Schule komplett aufs Land evakuiert wird.
Frances, gerade den Nationalsozialisten in Deutschland entkommen, will um
keinen Preis von Amanda getrennt werden. Unter diesen traumatischen Umständen
kämpft Amanda um Frances wie für ein leibliches Kind. Die "verrückte
Hunnin" plagen derweil widersprüchliche Gefühle: Darf sie eine fremde
Frau überhaupt so lieben wie eine Mutter? Darf sie glücklich sein, obwohl sie
nicht weiß, was inzwischen mit ihren Eltern passiert ist? Welche Pflichten hat
Frances gegenüber den Shephards, wenn Gary sich zur britischen Marine meldet
und Frances dann das einzige Kind der Familie sein wird? Zwischen
Luftangriffen, Lebensmittelrationierung (Dig for Victory - Gärtnern für den
Sieg) und dem Anschein normalen Alltags könnte man glatt vergessen, dass
Frances inzwischen in die Pubertät gekommen ist. Frances ist sich der Liebe
Amandas inzwischen so sicher, dass sie ihre Pflegemutter mit pubertären
Machtkämpfen provoziert. Amanda fällt dabei auf, dass sie zwar die Broschüre
über traumatisierte Flüchtlingskinder sorgfältig gelesen hat, aber in der
Aufregung völlig vergaß, das "Bienengespräch" mit Frances zu
führen. Am Ende des Krieges, aus Franziska ist endgültig Frances geworden,
muss die inzwischen Erwachsene sich entscheiden, wie sie ihrer Mutter
gegenübertreten wird. Frances empfindet ihrer Mutter gegenüber widerstreitende
Schuldgefühle und hat sich ihr im Laufe der Jahre völlig entfremdet.
Fazit
Vor dem historischen Hintergrund der Kindertransporte jüdischer Kinder nach
England hat Anne Voorhoeve mit Franziska Mangold eine fiktive und zugleich sehr
glaubwürdige Figur geschaffen. Am Beispiel Franziskas, die selbst ein Zuhause
gefunden hat und der es nicht gelingt, ihre Eltern und ihre Freundin ins sichere
England nachzuholen, bringt die Autorin ihren Lesern die widersprüchlichen
Empfindungen von Überlebenden des Nationalsozialismus nahe. Voorhoeves
liebenswerte Haupt- und Nebenfiguren mit all ihren Ecken und Kanten und eine
spannende, schlüssige Handlung fügen sich in "Liverpool Street" zu
einem herausragenden historischen Jugendbuch, das die Grenzen zwischen Jugend-
und Erwachsenenliteratur überschreitet.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 18. Januar 2009 2009-01-18 10:59:44