Wiedergelesen
Es gibt Romane, die man nicht vergisst, weil sie etwas Besonderes sind. Ein
solches Buch ist Manfred Bielers Mädchenkrieg. Dieser hochinteressante
Gesellschaftsroman, der in den dreißíger Jahren beginnt und nach dem zweiten
Weltkrieg endet, besticht durch seine präzise geschilderten Charaktere.
Der deutsche Bankier Sellmann wird auf Veranlassung des böhmischen Magnaten
Eugen Lustig von der Elbe an die Moldau versetzt. Begleitet wird er von seiner
Familie: Seiner Frau Betty, dem durch eine Masernerkrankung erblindeten Sohn
Heinrich und den drei Töchtern Christine, Sophie und Katharina.
Die Mission des im Grunde unpolitischen Sellmanns ist heikel: In Deutschland hat
Hitler die Macht übernommen und man versucht, Kenntnisse über die tschechische
Industrie zu erlangen, die für die geplante Arisierung und spätere Okkupation
von Nutzen sein könnten. Sellmann gerät zwischen die Fronten und wird zum
Diener zweier Herren.
Entscheidender aber ist, dass seine drei absolut unterschiedlich gearteten
Töchter in Prag auf andere Lebensbahnen geraten. Die eigensinnige, komplizierte
Christine, die sich unter falschen Voraussetzungen in den Tschechen Jan Amery
verliebt, die mittlere Tochter Sophie, die als Sängerin debütiert und die
jüngste, kluge, politisch interessierte Tochter Katharina. Alle drei sind
bestechende junge Frauen, die mit guten Voraussetzungen ins Leben starten, aber
in den Strudel der politischen Ereignisse, ihrer ureignen inneren Widerstände
und in die Unausweichlichkeit der Schicksalhaftigkeit des Lebens geraten. So
erstarrt die blonde Christine in der Scheinhaftigkeit ihrer Vorstellungen und
ihrem rasenden Ehrgeiz, Sophie, die ihren Schwager liebt, findet über den Umweg
als Nonne zu Amery zurück, verliert ihn aber wieder durch einen Mord und auch
Katharina, die sich schon als junges Mädchen in einen tschechischen Kommunisten
verliebt und mit ihm in den Widerstand geht, steht am Ende des Romans mit leeren
Händen vor einem Neubeginn.
Fazit
Bieler schildert das Spannnungsfeld der europäischen Umbrüche, in dem die
Namen Masaryk, Benesch, von Neurath und Heydrich den politischen Background
bestimmen und sein Gesellschaftsszenario um die Sellmanns, ihre
Geschäftsfreunde, Bekannten, Verwandten mit großer Kenntnis. Die bildhafte
Sprache des Romans, die lebendig wirkenden Handlungsträger, der spröde Witz
und die stets spannende Handlung treiben die Geschichte voran und machen das es
schwer, es aus der Hand zu legen bevor man sein Ende kennt. Und auch wenn dieser
Schluss traurig ausfällt, bleibt das Gefühl, dass man einen guten Roman
gelesen hat.
Und so wünscht man sich eine Neuauflage, vielleicht mit einem etwas
glücklicheren Titel.
Vorgeschlagen von Heide John
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veröffentlicht am 18. Januar 2009 2009-01-18 09:26:09