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Jade Y. Chen: Die Insel der Göttin

Die Insel der Göttin

von Jade Y. Chen
Verlag: Münchener Frühling Verlag [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Belletristik
ISBN-13 978-3-940233-13-4

Preis: 24,90 Euro bei Amazon.de [Stand: 21. November 2024]
Mit 18 Jahren war Ayako, die Großmutter der Autorin, 1930 von der japanischen Insel Okinawa nach Taiwan gereist, um sich dort mit Yoshino zu verloben. Doch Yoshino ist schon tot, als Ayako auf seiner Heimatinsel eintrifft. Zwei Jahre später reist die elternlose junge Frau wieder nach Taiwan, dieses Mal bleibt sie und heirat Lin Jian, der vom chinesischen Festland stammt. Großmutter Ayakos Mann, der schon als Junge verrückt nach Flugzeugen war, nimmt als Soldat der japanischen Armee am Krieg im Südpazifik teil. Erst zwei Jahre nach Kriegende kehrt Jian traumatisiert zu seiner Frau und seinen beiden kleinen Töchtern zurück. Jian hatte, wie andere Soldaten auch, in den Bergen ausgeharrt, solange er der Nachricht vom Kriegsende nicht trauen konnte. Kurze Zeit später wird Jian verhaftet und stirbt unter merkwürdigen Umständen in Polizeihaft. Über die Gründe seiner Verhaftung und die Umstände seines Todes erfährt die Familie nichts. Jians jüngerer Bruder Cai geht zunächst nach Japan, um von dort nach Brasilien auszuwandern.

Ayako muss sich allein mit den Kindern durchschlagen und eröffnet einen Frisörsalon. Die Töchter Sijuko, die Mutter Jade Chens, und Sinru, die erst geboren wird, während der Vater schon als vermisst gilt, werden zeitweise von Nachbarinnen betreut. Sijuko verbringt zwei Jahre lang ohne ihre Mutter bei Großmutter Ayako und kehrt erst zur Einschulung nach Taipeh zurück. Das kleine Mädchen sprach damals kein Japanisch, die Oma kein Chinesisch. In der Erinnerung empfindet Jade Chen, dass Mutter und Großmutter wie verpflanzte Bonsais seien, beide hätten in jungen Jahren ihre Heimat verlassen müssen. Ayakos Töchter haben ihr Leben lang nach Anerkennung und Liebe gehungert und sich auch als Erwachsene nicht mit Mutter und Schwester aussöhnen können. Von Sijuko erwartet die Mutter, dass sie den Haushalt führt und Ayako entlastet. Sijuko wird ihrer Mutter ein Leben lang ihr distanziertes Verhalten den kleinen Töchtern gegenüber vorwerfen und kritisieren, dass die Mutter die Tragödie des Vaters zu ihrer eigenen mache. Umgekehrt stellt Mutter Ayako ihre ältere Tochter als die schwierigere, dickköpfigere dar. Auch die Erzählerin wird von ihrer Mutter als ungehorsamste, am wenigsten ergebene Tochter gesehen. Beider Rolle als die, die sich schlecht behandeln lässt, hätte Nähe zwischen Mutter und Tochter entstehen lassen können, hätten beide nur über ihre Gefühle sprechen können.

Sijuko heiratet sehr jung und gegen den Willen der Mutter den Festlands-Chinesen Feng Xinwen, den Vater der Autorin Jade Chen und bekommt mit ihm fünf Töchter. Feng wird wie sein Schwiegervater für seine Familie als Fremder aus dem Krieg zurück kehren, in seinem Fall ist es der Zweite Weltkrieg. Feng verschweigt jahrelang, dass er als junger Mann auf dem Festland in einer arrangierten Ehe verheiratet wurde und dort Frau und Kind hat. Auch dort gibt es ein kleines Mädchen, das seinen Vater nie gesehen hat und eine Mutter, die sich unter schwierigen Bedingungen und ständigen Verdächtigungen wegen ihrer angeblichen Verbindungen nach Taiwan allein durchschlagen muss. Für die Gefühle von Frauen und Kindern fühlt sich Feng Xinwen nicht zuständig, stellt vermutlich auch seinen Gehorsam gegenüber dein eigenen Eltern nie in Frage. Alle Kinder des Familien-Clans Lin/Feng litten unter ihren abwesenden Vätern. "Fu buxiang", Vater unbekannt hieß es lapidar in der Schule. Kindern sind die Gründe egal, warum ihr Vater sie verlassen hat. Sijuko wird sich stets daran erinnern, wie die vaterlose Familie von den Nachbarn geschnitten wurde, die jüngere Schwester wird darüber klagen, dass es doch viel schlimmer sei, den Vater erst gar nicht kennengelernt zu haben. Auch nach 40 Jahren wird Feng von den Nachbarn in Taiwan immer noch als Festlands-Chinese gesehen. Im Alter wird er sich zum Opfer stilisieren, das von "Frauen zugrunde gerichtet" wurde, und kann erst spät Schuldgefühle gegenüber seinen Kindern empfinden.

Jade Chen zieht es aus den deprimierenden Familienbanden als Studentin nach Frankreich, stets auf der Flucht vor einer Familie, die Außenseiter gewesen ist und die Tochter wieder zur Außenseiterin gemacht hat. 1987 kehrt Chen mit 40 Jahren gemeinsam mit ihrem deutschen Partner in die alte Heimat zurück und erkennt die Gasse, in der einst ihr Elternhaus stand, zwischen den Neubauten Taipehs kaum wieder. Der deutsche Besucher findet einen eigenen Weg zur Mutter der Autorin; denn in der deutschen Nachkriegsgeschichte sind verschwundene oder vermisste Väter nicht ungewöhnlich. Jade Chen hat die beiden Generäle mitgebracht, zwei aus Holz geschnitzte Figuren aus dem Familienbesitz, die als Wächter die Figur der Göttin Mazu bewachen sollen. Großmutter Ayako verehrte die Meeresgöttin Mazu und die Rückkehr der Figuren schließt den Bogen dieser weit verzweigten Familiengeschichte.

Jade Chen verknüpft mit der Rahmenhandlung über die Götterfigur und ihre Wächter die Geschichte ihrer Familie mit der Geschichte Taiwans und der Region im Südpazifik zwischen Japan, Taiwan und dem chinesischen Festland. Eingeschoben werden Informationen zum buddhistischen Glauben, zu Göttern, Gebeten und Trauer-Zeremonien auf der Insel. Für deutsche Leser bewegend ist die Begegnung zwischen Chens deutschem Partner und ihrer Mutter Sijuko, die beide von den Kriegs- und Nachkriegsereignissen in ihrer Heimat geprägt sind. Die Prägung der Region und der Familienbeziehungen je nach japanischer, chinesischer oder mongolischer Herkunft einzelner Menschen wird auf dem Landkartenausschnitt besonders deutlich, der Okinawa, Großmutter Ayakos Heimat, wie eine Perle in der Muschel mitten zwischen den Nachbarstaaten zeigt. Als Kind hatte Chen ihre Heimatinsel Taiwan, die Ende des 19. Jahrhunderts nach verlorenem Krieg vom chinesischen Kaiser Japan überlassen wurde, für den Mittelpunkt eines riesigen Reiches gehalten.
Fazit
In dichtem, unpathetischen Stil und eindringlichen Bildern aus kindlicher Perspektive reiht Chen die Erinnerungen der Frauen der Lins und Fengs mit zahlreichen Einschüben wie spontan erzählte Familien-Anekdoten aneinander. Die unterschiedlichen Erinnerungen wirken sehr authentisch und fügen sich zum Mosaik einer weit verzweigten Familie, in der vieles verschwiegen und manches ungeklärt blieb. Zum Lesegenuss tragen eine Liste der Familienmitglieder und die Landkarte der Region bei. Jade Chen vermittelt mit ihrer Familiengeschichte ein sehr lebendiges Bild der japanisch wie chinesisch geprägten Kultur Taiwans.
10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne

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Vorgeschlagen von Helga Buss [Profil]
veröffentlicht am 02. Januar 2009

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