Mit 18 Jahren war Ayako, die Großmutter der Autorin, 1930 von der japanischen
Insel Okinawa nach Taiwan gereist, um sich dort mit Yoshino zu verloben. Doch
Yoshino ist schon tot, als Ayako auf seiner Heimatinsel eintrifft. Zwei Jahre
später reist die elternlose junge Frau wieder nach Taiwan, dieses Mal bleibt
sie und heirat Lin Jian, der vom chinesischen Festland stammt. Großmutter
Ayakos Mann, der schon als Junge verrückt nach Flugzeugen war, nimmt als Soldat
der japanischen Armee am Krieg im Südpazifik teil. Erst zwei Jahre nach
Kriegende kehrt Jian traumatisiert zu seiner Frau und seinen beiden kleinen
Töchtern zurück. Jian hatte, wie andere Soldaten auch, in den Bergen
ausgeharrt, solange er der Nachricht vom Kriegsende nicht trauen konnte. Kurze
Zeit später wird Jian verhaftet und stirbt unter merkwürdigen Umständen in
Polizeihaft. Über die Gründe seiner Verhaftung und die Umstände seines Todes
erfährt die Familie nichts. Jians jüngerer Bruder Cai geht zunächst nach
Japan, um von dort nach Brasilien auszuwandern.
Ayako muss sich allein mit den Kindern durchschlagen und eröffnet einen
Frisörsalon. Die Töchter Sijuko, die Mutter Jade Chens, und Sinru, die erst
geboren wird, während der Vater schon als vermisst gilt, werden zeitweise von
Nachbarinnen betreut. Sijuko verbringt zwei Jahre lang ohne ihre Mutter bei
Großmutter Ayako und kehrt erst zur Einschulung nach Taipeh zurück. Das kleine
Mädchen sprach damals kein Japanisch, die Oma kein Chinesisch. In der
Erinnerung empfindet Jade Chen, dass Mutter und Großmutter wie verpflanzte
Bonsais seien, beide hätten in jungen Jahren ihre Heimat verlassen müssen.
Ayakos Töchter haben ihr Leben lang nach Anerkennung und Liebe gehungert und
sich auch als Erwachsene nicht mit Mutter und Schwester aussöhnen können. Von
Sijuko erwartet die Mutter, dass sie den Haushalt führt und Ayako entlastet.
Sijuko wird ihrer Mutter ein Leben lang ihr distanziertes Verhalten den kleinen
Töchtern gegenüber vorwerfen und kritisieren, dass die Mutter die Tragödie
des Vaters zu ihrer eigenen mache. Umgekehrt stellt Mutter Ayako ihre ältere
Tochter als die schwierigere, dickköpfigere dar. Auch die Erzählerin wird von
ihrer Mutter als ungehorsamste, am wenigsten ergebene Tochter gesehen. Beider
Rolle als die, die sich schlecht behandeln lässt, hätte Nähe zwischen Mutter
und Tochter entstehen lassen können, hätten beide nur über ihre Gefühle
sprechen können.
Sijuko heiratet sehr jung und gegen den Willen der Mutter den
Festlands-Chinesen Feng Xinwen, den Vater der Autorin Jade Chen und bekommt mit
ihm fünf Töchter. Feng wird wie sein Schwiegervater für seine Familie als
Fremder aus dem Krieg zurück kehren, in seinem Fall ist es der Zweite
Weltkrieg. Feng verschweigt jahrelang, dass er als junger Mann auf dem Festland
in einer arrangierten Ehe verheiratet wurde und dort Frau und Kind hat. Auch
dort gibt es ein kleines Mädchen, das seinen Vater nie gesehen hat und eine
Mutter, die sich unter schwierigen Bedingungen und ständigen Verdächtigungen
wegen ihrer angeblichen Verbindungen nach Taiwan allein durchschlagen muss. Für
die Gefühle von Frauen und Kindern fühlt sich Feng Xinwen nicht zuständig,
stellt vermutlich auch seinen Gehorsam gegenüber dein eigenen Eltern nie in
Frage. Alle Kinder des Familien-Clans Lin/Feng litten unter ihren abwesenden
Vätern. "Fu buxiang", Vater unbekannt hieß es lapidar in der Schule.
Kindern sind die Gründe egal, warum ihr Vater sie verlassen hat. Sijuko wird
sich stets daran erinnern, wie die vaterlose Familie von den Nachbarn
geschnitten wurde, die jüngere Schwester wird darüber klagen, dass es doch
viel schlimmer sei, den Vater erst gar nicht kennengelernt zu haben. Auch nach
40 Jahren wird Feng von den Nachbarn in Taiwan immer noch als Festlands-Chinese
gesehen. Im Alter wird er sich zum Opfer stilisieren, das von "Frauen
zugrunde gerichtet" wurde, und kann erst spät Schuldgefühle gegenüber
seinen Kindern empfinden.
Jade Chen zieht es aus den deprimierenden Familienbanden als Studentin nach
Frankreich, stets auf der Flucht vor einer Familie, die Außenseiter gewesen ist
und die Tochter wieder zur Außenseiterin gemacht hat. 1987 kehrt Chen mit 40
Jahren gemeinsam mit ihrem deutschen Partner in die alte Heimat zurück und
erkennt die Gasse, in der einst ihr Elternhaus stand, zwischen den Neubauten
Taipehs kaum wieder. Der deutsche Besucher findet einen eigenen Weg zur Mutter
der Autorin; denn in der deutschen Nachkriegsgeschichte sind verschwundene oder
vermisste Väter nicht ungewöhnlich. Jade Chen hat die beiden Generäle
mitgebracht, zwei aus Holz geschnitzte Figuren aus dem Familienbesitz, die als
Wächter die Figur der Göttin Mazu bewachen sollen. Großmutter Ayako verehrte
die Meeresgöttin Mazu und die Rückkehr der Figuren schließt den Bogen dieser
weit verzweigten Familiengeschichte.
Jade Chen verknüpft mit der Rahmenhandlung über die Götterfigur und ihre
Wächter die Geschichte ihrer Familie mit der Geschichte Taiwans und der Region
im Südpazifik zwischen Japan, Taiwan und dem chinesischen Festland.
Eingeschoben werden Informationen zum buddhistischen Glauben, zu Göttern,
Gebeten und Trauer-Zeremonien auf der Insel. Für deutsche Leser bewegend ist
die Begegnung zwischen Chens deutschem Partner und ihrer Mutter Sijuko, die
beide von den Kriegs- und Nachkriegsereignissen in ihrer Heimat geprägt sind.
Die Prägung der Region und der Familienbeziehungen je nach japanischer,
chinesischer oder mongolischer Herkunft einzelner Menschen wird auf dem
Landkartenausschnitt besonders deutlich, der Okinawa, Großmutter Ayakos Heimat,
wie eine Perle in der Muschel mitten zwischen den Nachbarstaaten zeigt. Als
Kind hatte Chen ihre Heimatinsel Taiwan, die Ende des 19. Jahrhunderts nach
verlorenem Krieg vom chinesischen Kaiser Japan überlassen wurde, für den
Mittelpunkt eines riesigen Reiches gehalten.
Fazit
In dichtem, unpathetischen Stil und eindringlichen Bildern aus kindlicher
Perspektive reiht Chen die Erinnerungen der Frauen der Lins und Fengs mit
zahlreichen Einschüben wie spontan erzählte Familien-Anekdoten aneinander.
Die unterschiedlichen Erinnerungen wirken sehr authentisch und fügen sich zum
Mosaik einer weit verzweigten Familie, in der vieles verschwiegen und manches
ungeklärt blieb. Zum Lesegenuss tragen eine Liste der Familienmitglieder und
die Landkarte der Region bei. Jade Chen vermittelt mit ihrer Familiengeschichte
ein sehr lebendiges Bild der japanisch wie chinesisch geprägten Kultur Taiwans.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 02. Januar 2009 2009-01-02 15:36:41