Dr. Rüdiger Varendorf ist Direktor einer Stiftungsbibliothek mit täglich
insgesamt zwei Benutzern, Chef über eine Bibliothekarin und eine studentische
Hilfskraft namens Urs. Während sich die Bibliothekarin im Lesesaal der
Schöpfung textiler Objekte widmet, lässt der Chef seine Hilfskraft ungestört
den wertvollen Altbestand einscannen. BWL-Student Urs ist überzeugt davon,
dass die Bibliotheks-Idylle auf die tägliche Anwesenheit eines Chefs gut
verzichten kann und sinnt darauf, Varendorf zu beschäftigen. Varendorf, ein
Meister absurder, weltfremder Schlussfolgerungen, besitzt weder Fernsehapparat
noch Auto. Er bekommt nun von Urs einen persönlichen Rechner konstruiert. Aus
pädagogischen Gründen haben Urs' Schöpfungen ein offenes Gehäuse, damit man
jederzeit verfolgen kann, was in ihrem Innern geschieht. Ulf karrt das zwischen
Holzplatten geschraubte Meisterwerk per Einkaufswägelchen heran und entlässt
Varendorf in die Welt des Worldwide Web. "Das Internet ist voller Lügen.
Passen Sie auf, dass Sie nichts falsch machen." gibt er seinem Boss noch
mit auf den Weg. Bei dem Gedanken daran, was Varendorf als Internet-Anfänger
bei seinen ersten Gehversuchen alles passieren könnte und vor allem, welche
Kosten seine Eskapaden verursachen könnten, fühlt sich der Leser leicht
schwach auf den Füßen.
Doch Varendorf hat einen tatkräftigen Schutzengel. Wie eine Enzyklopädie grast
unser Geisteswissenschaftler an der Schwelle zum Vorruhestand das Internet ab.
Er klickt sich beinahe um den Verstand und landet schließlich in der Welt der
Blogs. Varendorf gerät an eine Gruppe bloggender junger Mädchen, die behaupten
aus den USA und Australien zu stammen. Varendorf nennt sich nach einem
Herpes-Balsam spontan "Serenity" und kommuniziert fortan als
angeblich 15-jährige Münchnerin in Kürzestsätzen über Manga, Zellulite und
den täglichen familiären Kleinkrieg. Varendorf rechtfertigt seine
Nachtsitzungen vor sich selbst damit, dass er zum Thema Internet für die NZZ
recherchieren würde. Doch zunächst muss er umgehend online und
"real" seine Kenntnisse der weiblichen Psyche ausbauen, besonders der
Psyche heranwachsender Mädchen. Blog-technische Herausforderungen treffen
Schlag auf Schlag in Varendorfs Mailbox ein: Die Kanadierin April_Chan, eine
seiner nächtlichen Blog- und Chat-Bekanntschaften, glaubt in Varendorf einen
Bruder im Geiste getroffen zu haben, mit dem sie sich über paranormale
Fähigkeiten austauschen kann. "Serenity" bildet sich derweil über
Manga, Katzen, Psychotests und Piercings fort, um den Einträgen seiner Grazien
folgen zu können. Die sind überzeugt davon, dass Serenity ihnen nichts
vormachen könne; denn sie haben inzwischen alle Informationen über die Neue
doppelt und dreifach per Persönlichkeitstest überprüft. Absolut köstlich
geschildert ist Varendorfs verhaltene Art, sich von Urs Ratschläge über das
Internet zu holen und Urs dabei im Unklaren zu lassen, für welchen Zweck sein
betagter Internet-Azubi diese Ratschläge benötigt.
Fazit
Wunnickes spannende und zugleich rührende Internet-Groteske nimmt treffend die
Abenteuer eines weltfremden Gelehrten in der virtuellen Welt aufs Korn.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 25. Dezember 2008 2008-12-25 10:44:26