Als im Büro des Informatik-Professors Hendley eine Briefbombe explodiert,
gesteht sich sein Kollege Lee ein, dass er den allseits beliebten Hendley schon
immer verabscheut hat. Hendley wird schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert
und stirbt wenige Tage später; Lee wurde bei dem Anschlag leicht verletzt. Mit
"Wir sind doch nur Professoren" reagiert das leicht weltfremde
Kollegium der Provinz-Universität schockiert auf den Bombenanschlag. Während
die Polizei ermittelt und die Universitäts-Kollegen sich um den schwer
verletzten Henley sorgen, reagiert Lee, ein älterer Mathematik-Professor
asiatischer Herkunft, merkwürdig distanziert auf die Ereignisse. Als einziger
Kollege besucht er den verletzten Hendley nicht im Krankenhaus und entzieht sich
nach Rick Hendleys Tod sämtlichen Trauerritualen, die die kleine Universität
Studenten und Dozenten anbietet. Die Ereignisse haben Lee nicht nur seine
Abneigung gegen Handley bewusst werden lassen, sie beschwören auch Figuren
seiner Vergangenheit herauf. Lee durchlebt in Gedanken noch einmal seine
Studentenzeit vor über 30 Jahren, als er seinem Kommilitonen Gaither, einem
fanatischen Evangelikalen, die Frau ausspannte, obwohl sie bereits ein Kind von
ihrem Mann erwartete. Nach erbitterten Kämpfen erlangte Gaither damals das
alleinige Sorgerecht für den kleinen John. Johns Mutter Aileen ist inzwischen
schon seit Jahren tot; und auch von seiner zweiten Frau Michiko hat Lee sich
getrennt. Zwischen Lee und seiner erwachsenen Tochter Esther herrscht eisiges
Schweigen, seit Esther das College abgebrochen hat, um sich einem
Naturschutzprojekt zu widmen. Aufgrund der Fernseh-Berichterstattung über das
Attentat meldet sich überraschend Fasano bei Lee, vermutlich der einzige
Freund, den Lee je hatte. Fasano ist überzeugt davon, dass das Attentat Werk
eines Serientäters sein muss; denn es hat zuvor schon Anschläge auf
Naturwissenschaftler gegeben. Als Lee am Tag nach dem Attentat einen
geheimnisvollen Brief erhält, ist er - gefangen in seinem Hadern mit der
Vergangenheit - überzeugt, dass der Brief von Gaither stammen muss. Lee
argwöhnt, dass Gaither ihm noch immer grollt und das Attentat womöglich gar
nicht seinen Kollegen Hendley treffen sollte. Nachdem Fasano sich vergewissert
hat, dass sein alter Freund Lee noch am Leben ist, drehen sich seine Gedanken um
den Täter und seine Motive. Verglichen mit Fasanos nachvollziehbarer Reaktion
wirken Lees Verdrängungsstrategien und sein Abtauchen in die Vergangenheit
überaus merkwürdig. Je mehr man im Verlauf der Handlung über Lee erfährt,
umso sonderbarer wirkt der alte Herr.
Inzwischen ermittelt das FBI in der Poststelle der Universität und Lee als
Zimmernachbar und Ohrenzeuge des Anschlags wird für die Ermittler zur
"Person of interest" (so der Originaltitel des Buches), zu jemandem,
der im Mittelpunkt der Ermittlungen steht, aber bisher noch nicht verdächtigt
wird. Bei seiner Aussage zum angeblichen Brief Gaithers verwickelt sich Lee in
Widersprüche und wird zum Hauptverdächtigen der Ermittler. Ein merkwürdiger
älterer Immigrant asiatischer Herkunft scheint dem FBI genug zu sein, um erst
gar nicht weiter in andere Richtungen zu ermitteln. Während nun zur besten
Sendezeit Sensations-Reporter den sonderbaren Herrn Lee zum ausländischen
Terroristen stilisieren und sein bescheidenes Häuschen belagern, verfolgen
Susan Chois Leser atemlos, wie sich die Schlinge der Ermittlungen immer fester
um Lees Hals zuzuziehen scheint. Was auch immer Lee nun tut, sein Verhalten wird
in der Atmosphäre irrationaler Fremdenfeindlichkeit stets gegen ihn sprechen.
Lee, ein durchschnittlicher Mann in einer paranoid xenophoben Gesellschaft,
scheint eine Massenhysterie ausgelöst zu haben, in deren Windschatten es den
Ermittlern stärker darauf ankommt, der Öffentlichkeit einen Verdächtigen zu
präsentieren als den Täter zu finden. Als Ermittler und Öffentlichkeit
darüber befinden, ob sie Lee für einen guten Amerikaner, "nur" für
einen erfolgreich integrierten Einwanderer oder für den Helfer eines
fanatischen Attentäters halten sollen, scheint es für Lees
Unschuldsbeteuerungen beinahe schon zu spät zu sein. In ihrer meisterhaften
Charakterisierung eines etwas weltfremden Mathematik-Professors hat Susan Choi
von Beginn an ein paar Widerhaken ausgelegt, über die man sich als Leser erst
im Nachhinein klar wird. Die Autorin zeigt Lee differenziert bis in die kleinste
Gefühlsregung - ein beunruhigend vertraut wirkendes Portrait eines
Einzelgängers.
Fazit
Susan Choi lässt ihre mit großer Raffinesse aufgebaute Handlung erst im
zweiten Drittel des Buches allmählich an Tempo gewinnen. Dass die Autorin
einen Einwanderer und einen fanatischen Evangelikalen als Widersacher auftreten
lässt, gibt ihrem fesselnden Roman beklemmende Aktualität. Vor der Kulisse der
Ereignisse des 9.11.2001 und angelehnt an die Person des US-amerikanischen
Una-Bombers Theodore Kaczynski, der zwischen 1978 und 1995 Briefbomben an
Personen des öffentlichen Lebens verschickte, ist ein Roman entstanden, der
sich spannend wie ein Thriller liest und zugleich die Widersprüche der
amerikanische Gesellschaft der Epoche nach 2001 schonungslos analysiert. Die auf
hohem literarischen Niveau erzählte und von Annette Hahn stilsicher übersetzte
Handlung nimmt einen fesselnden Verlauf, dem man sich nur schwer entziehen kann.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 21. Dezember 2008 2008-12-21 20:06:51