Leben heißt, etwas Aufgegebenes erfüllen. In dem Maße, wie wir es vermeiden,
unser Leben an etwas zu setzen, entleeren wir es. Leben heißt, auf ein Ziel hin
abgeschnellt sein. Wenn ich selbst das Ziel bin, komme ich nicht voran. Das
richtig schöpferisches Leben war für viele Philosophen ein straffes Leben und
das ist nur unter zwei Bedingungen möglich: Entweder man herrscht selber, oder
man ist in einer Welt behaust, wo einer herrscht, dem man volles Recht zur
Ausübung seines Amtes zuerkennt. - Man herrscht oder gehorcht. E.M. Cioran
gehörte zu jenen, die nicht gehorchten, sondern frei und selbst herrschten.
E.M. Cioran, der große Denker des stolzen Verneinens, hielt sich vor über
vierzig Jahren, von Ende Juli bis Ende August 1966, in Talamanca auf Ibiza auf.
Die Insel der Glückseligen, die damals noch nicht von Blumenkindern,
Aussteigern und Partysüchtigen besetzt war, hat Cioran die erhoffte Ruhe nicht
geschenkt. So entstand dort ein weiteres Werk der Negation, wie wir es von ihm
gewohnt sind, denn an Ausspannen war nicht zu denken, weshalb er, vom Wetter und
von Schlaflosigkeit geplagt, zu schreiben begann und ein Sommertagebuch einer
erloschenen Liebe hinterließ. Auch auf Ibiza konnte er seiner Befindlichkeit,
die er selbst zwischen Grauen und Ekstase ansiedelte, nicht entgehen. Sein
Leiden machte ihn zu dem, was er war: Jemand, der nicht durch Politik oder
Religion beherrscht werden konnte, sondern immer nur er selbst war und eine
Situation - so auch auf Ibiza - ertrug, in der "jeder Beginn eines
Gedankens" mit einem "Leiden überein" stimmt.
Und dennoch war ihm klar: Weit entfernt vom Mittelmeer zu leben, ist ein Irrtum.
"Auf einer kleinen Insel leben, sich langweilen und beten, beten und sich
langweilen..." - und damit war nicht das herkömmliche Beten gemeint, das
sich einer Erlösung gewiss ist, sondern das Beten des Skeptikers, der die
Gebrechen als Grundgegebenheiten seiner Existenz tief anerkannte. So notierte es
sich Cioran Ende Juli 1960 in eines seiner Hefte. - Ebenso wie: "Gelassen
zu leiden, das ist ein Geheimnis, wonach ich trachte." Mehrfach nimmt er
sich in seinen Aufzeichnungen vor, die "Philosophie der Erlösung" des
deutschen Philipp Mainländer zu lesen. Es scheint im wichtig zu sein, mit sich
selbst zu klären, welche Lektüre ihn in der Hitze des Mittelmeeres wohl
befreien könnte. - Und dennoch zweifelt Cioran wieder am Sinn der Erlösung und
bleibt sein eigener Herr - mit Stolz.
Es war ein Urlaub von Paris, in dem er die vorliegenden Aufzeichnungen tätigte.
Was hinter sich zu lassen sich tatsächlich lohnte, das kann er ohnehin nicht
loswerden, und er weiß das. Der Text erschien erstmals im Original abseits der
großen Ausgabe der "Cahiers" aus den Jahren 1957 bis 1972 und ist nun
im ersten Programm des kleinen Frankfurter Verlags "Weissbooks" zu
finden. Es bietet viele Fundstücke und zeichnet Cioran, der 1911 in Rasinari
bei Hermannstadt in Siebenbürgen als Sohn eines griechisch-orthodoxen Priesters
geboren wurde, als Menschen im Kampf gegen die Welt, gegen Gott, als Menschen
mit klarer Abneigung gegen jede Form des Dogmatismus. Nach einem
Philosophiestudium in Rumänien 1937 und dem Umzug nach Paris, wo Cioran bis zu
seinem Tode 1995 lebte, war in seiner Philosophie, eine Philosophie eines
rumänisch-französischen Extrem-Denkers, immer nur Zweifel möglich. Auch
Philosophie war ihm nur als Zweifel denkbar.
So war ihm der Taumel der Normalzustand des Menschen, ein normales Klima des
Seins, das aber nicht in den Selbstmord zwang, sondern in die Anerkennung
innerweltlicher Disharmonie, um aus ihr heraus nach den Tugenden der
Unausgeglichenheit zu leben und frei zu sein. - In Ciorans typischem Stolz aus
Verzweiflung schreibt er:
"Umgeben von zu schönen Landschaften fühlt man die eigene Verderbtheit
und ist ungehalten über die Leiche, die man mit sich herumschleppt."
Fazit
Das schmale Buch schlägt fast alle Themen Ciorans kurz an und ist somit auch
für eine Erstbegegnung mit dem Autor geeignet. Das Bewusstsein des Scheiterns
in der Nacht von Talamanca - ein grandioses Büchlein eines grandiosen Denkers!
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
[Profil]
veröffentlicht am 20. Dezember 2008 2008-12-20 16:30:25