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Henning Teschke: Sprünge der Differenz. Literatur und Philosophie bei Gilles Deleuze

Sprünge der Differenz. Literatur und Philosophie bei Gilles Deleuze

von Henning Teschke
Verlag: Matthes & Seitz [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Philosophie
ISBN-13 978-3-88221-024-8

Preis: 26,95 Euro bei Amazon.de [Stand: 24. November 2024]
Die Gefahr der Vereinheitlichung von Verhaltensweisen, politischem Denken und sozialem Verhalten bringt ohne Zweifel die wieder aktuelle Frage nach dem Wert der bewußt gelebten Differenz, nach dem Unterschied zwischen "Ich" und "Masse" mit sich. - Bleibt diese unbeantwortet, ergeben sich jene sozialen und politischen Phänomene, denen man heute sprachlos gegenübersteht: Zuckungen der Suche nach Identität, krampfartig zuckende Nationalismen und wilde Tribalisierungen. Indem das westliche System dem Menschen das Recht absprach, sich in geschichtlich vererbte Identitäten einzufügen, rief es pathologische Formen der Selbstbehauptungen und den Versuch der Identifizierung über den Weg neu ergründeter Differenz hervor. Die Entwurzelung ist eine soziale Pathologie unserer Zeit, obwohl der Mensch ein territoriales Tier mit intuitivem Bewußtsein für Differenz ist. Gegenüber der universalistischen Utopie und den partikularistischen Zuckungen bleibt ihm die Kraft der Unterschiede und bewußter Differenzen, die weder ein Übergangszustand zu einer höheren Einheit noch eine nebensächliche Einzelheit des Privatlebens sind, die eigentliche Substanz des gesellschaftlichen Lebens. Die Völker also sind demnach Wesenheiten mit eigener Persönlichkeit, die sich im Laufe der Geschichte geprägt hat. Dagegen kann man aus dieser Sicht nicht "Weltbürger" sein, denn die Welt ist keine politische Kategorie. Es gilt das Recht auf Verschiedenheit und nicht das der universalistischen Gleichgültigkeit. Man ist berechtigt, seine Verschiedenheit zu verteidigen, wenn man auch die der anderen verteidigt. Das bedeutet, daß das Recht auf Verschiedenheit nicht instrumentalisiert werden darf, um andere auszuschließen.

Die Frage des Philosophen Gilles Deleuzes im vorliegenden Buch lautet zuletzt: Welche Konzepte, Wahrnehmungen und Affekte führen aus einem Kapitalismus heraus, dessen Name Gleichgültigkeit ist? Mit der Naturalisierung der gesellschaftlichen Ordnung, mit dem Zusammenfall von Ökonomie und "Kultur" und der Vergleichgültigung der Zeit in immerwährende Gegenwart stellt sich für ihn das Problem der Differenz neu. Sie geht bei Deleuze auf gleichen Abstand zum Fremden und zum Eigenen, zu Toleranz und Entrückung. Deleuze wurde 1925 in Paris geboren. Er verfaßte philosophiegeschichtliche Studien über Spinoza, Bergson, Hume, Kant und Nietzsche. Insbesondere sein Buch über Nietzsche leitete eine neue Form der Rezeption des deutschen Philosophen in Frankreich ein. Neben seinen philosophiegeschichtlichen Monografien, die in seiner Habilitationsschrift "Differenz und Wiederholung" münden, finden sich auch Bücher über Malerei und Kino in seinem Werk. 1995 beging Deleuze nach langer und schwerer Krankheit Selbstmord.

Wer Deleuze also liest, öffnet sich gegenüber einem geistesgeschichtlichen Paradigmenwechsel, denn er stellt gerade die Differenz in das Bezugsfeld von Philosophie und Literatur und findet sie in deren Inkommensurabilität. Was vom Sein im Satz, vom Ereignis im Realen, vom Denken im Subjekt nicht aufgeht, wird Gegenstand seiner Metaphysik. Sie steht im Zeichen des devenir-autre gegen die Tautologien des Selbstwerdens. Das deleuzianische Denken rechnet also damit, daß die Opposition, die Differenz in allen Seins- und Erkenntnisbereichen nicht wegzudefinieren ist. Statt allgemeine Kategorien, universelle Regeln wie "Menschenrechte" und ihre zeitlose Geltung betont er das antäisch motivierte Prinzip des Lokalen, die Komplexität und Heterogenität des Wirklichen und das singuläre am Ereignishaften. Mit anderen Worten - so ließe sich weiterdenken: Ein Volksgeist reproduziert sich nur im eigenen Raum, unter eigenen Bedingungen, durch eigene überlieferte Institutionen, durch sein Milieu im umfassenden Sinne. Es gilt die klassische Metapher des genius loci: Nach Hermann Heller ein organischer naturhafter Kern jenseits zweckbewußter Interessenverbindung. Bindend wirken Abstammung, Landschaft, Blut und Boden. Damit ist das selbsternannte moderne Spezifikum des nicht an Orte gebundenen "sprachlichen Diskurses" ad absurdum geführt. Es gilt nicht für Deleuze.

Mit diesem Band vier der Reihe Traversen bei Matthes und Seitz liegt wieder einmal ein Buch vor, welches das Zeug zum Standardwerk - hier über Deleuze - hat. Wie schon die Ausgabe der Traversen zwei: "Kritik der repräentativen Demokratie", handelt es sich um literarischen Sprengstoff, den die dröge Literatur der Gegenwart nötig hat. Literatur und Philosophie hängen mit Deleuze komplementär zusammen. Mit der Dissoziation der Trias Ich - Sprache -Welt, eine philosophische Homologie des 19. Jahhrunderts, zergeht die Idee einer homogenen Wirklichkeit, die "steuerbar", "demokratisch", "menschenrechtsorientiert" oder "freiheitlich" ist. Deleuzes vitalistisches Credo dagegen stellt das Denken in den Dienst des wahrhaften Lebens - ein Leben, das sich nicht der Hybris preisgibt, in eine ideologische Form gegossen zu werden.

Mit anderen Worten: Deleuze hat sein Leben lang über die Differenz im Gegensatz zum vereinheitlichenden Universalismus nachgedacht. Und es kann nur ein Ergebnis geben: Die universalistische Maßlosigkeit schlägt in Heuchelei und Jammern um. Das Gegenbild aber ist der Mensch, der sich der Endlichkeit bewußt ist und dennoch seine Rolle spielt. Es ist das amor fati, das ihn bestimmt, das Gegenteil von Frustration, die tragische Haltung. Er weiß, daß dem durch die Differenz hervorgerufenen Kampf nicht immer ausgewichen werden kann und er scheut ihn deshalb auch nicht. Er ist gewillt, seinen Gegenspieler zu vernichten, wenn sich die Frage stellt "Du oder Ich". Er wird es aber niemals deshalb tun, weil der Gegner der falschen Religion anhängt oder universalistische Ideologien entlarvt. Er wird deshalb das Phantom einer vermeintlich falschen Religion zum Zwecke einer "Homologisierung" des Glaubens und Meinens und zur Auslöschung von Differenz auch niemals aufzuspüren versuchen. - Er lebt.
Fazit
Philosophie im Dienste des reinen Lebens.
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Vorgeschlagen von Daniel Bigalke [Profil]
veröffentlicht am 30. November 2008

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