Die Gefahr der Vereinheitlichung von Verhaltensweisen, politischem Denken und
sozialem Verhalten bringt ohne Zweifel die wieder aktuelle Frage nach dem Wert
der bewußt gelebten Differenz, nach dem Unterschied zwischen "Ich"
und "Masse" mit sich. - Bleibt diese unbeantwortet, ergeben sich jene
sozialen und politischen Phänomene, denen man heute sprachlos gegenübersteht:
Zuckungen der Suche nach Identität, krampfartig zuckende Nationalismen und
wilde Tribalisierungen. Indem das westliche System dem Menschen das Recht
absprach, sich in geschichtlich vererbte Identitäten einzufügen, rief es
pathologische Formen der Selbstbehauptungen und den Versuch der Identifizierung
über den Weg neu ergründeter Differenz hervor. Die Entwurzelung ist eine
soziale Pathologie unserer Zeit, obwohl der Mensch ein territoriales Tier mit
intuitivem Bewußtsein für Differenz ist. Gegenüber der universalistischen
Utopie und den partikularistischen Zuckungen bleibt ihm die Kraft der
Unterschiede und bewußter Differenzen, die weder ein Übergangszustand zu einer
höheren Einheit noch eine nebensächliche Einzelheit des Privatlebens sind, die
eigentliche Substanz des gesellschaftlichen Lebens. Die Völker also sind
demnach Wesenheiten mit eigener Persönlichkeit, die sich im Laufe der
Geschichte geprägt hat. Dagegen kann man aus dieser Sicht nicht
"Weltbürger" sein, denn die Welt ist keine politische Kategorie. Es
gilt das Recht auf Verschiedenheit und nicht das der universalistischen
Gleichgültigkeit. Man ist berechtigt, seine Verschiedenheit zu verteidigen,
wenn man auch die der anderen verteidigt. Das bedeutet, daß das Recht auf
Verschiedenheit nicht instrumentalisiert werden darf, um andere
auszuschließen.
Die Frage des Philosophen Gilles Deleuzes im vorliegenden Buch lautet zuletzt:
Welche Konzepte, Wahrnehmungen und Affekte führen aus einem Kapitalismus
heraus, dessen Name Gleichgültigkeit ist? Mit der Naturalisierung der
gesellschaftlichen Ordnung, mit dem Zusammenfall von Ökonomie und
"Kultur" und der Vergleichgültigung der Zeit in immerwährende
Gegenwart stellt sich für ihn das Problem der Differenz neu. Sie geht bei
Deleuze auf gleichen Abstand zum Fremden und zum Eigenen, zu Toleranz und
Entrückung. Deleuze wurde 1925 in Paris geboren. Er verfaßte
philosophiegeschichtliche Studien über Spinoza, Bergson, Hume, Kant und
Nietzsche. Insbesondere sein Buch über Nietzsche leitete eine neue Form der
Rezeption des deutschen Philosophen in Frankreich ein. Neben seinen
philosophiegeschichtlichen Monografien, die in seiner Habilitationsschrift
"Differenz und Wiederholung" münden, finden sich auch Bücher über
Malerei und Kino in seinem Werk. 1995 beging Deleuze nach langer und schwerer
Krankheit Selbstmord.
Wer Deleuze also liest, öffnet sich gegenüber einem geistesgeschichtlichen
Paradigmenwechsel, denn er stellt gerade die Differenz in das Bezugsfeld von
Philosophie und Literatur und findet sie in deren Inkommensurabilität. Was vom
Sein im Satz, vom Ereignis im Realen, vom Denken im Subjekt nicht aufgeht, wird
Gegenstand seiner Metaphysik. Sie steht im Zeichen des devenir-autre gegen die
Tautologien des Selbstwerdens. Das deleuzianische Denken rechnet also damit,
daß die Opposition, die Differenz in allen Seins- und Erkenntnisbereichen nicht
wegzudefinieren ist. Statt allgemeine Kategorien, universelle Regeln wie
"Menschenrechte" und ihre zeitlose Geltung betont er das antäisch
motivierte Prinzip des Lokalen, die Komplexität und Heterogenität des
Wirklichen und das singuläre am Ereignishaften. Mit anderen Worten - so ließe
sich weiterdenken: Ein Volksgeist reproduziert sich nur im eigenen Raum, unter
eigenen Bedingungen, durch eigene überlieferte Institutionen, durch sein Milieu
im umfassenden Sinne. Es gilt die klassische Metapher des genius loci: Nach
Hermann Heller ein organischer naturhafter Kern jenseits zweckbewußter
Interessenverbindung. Bindend wirken Abstammung, Landschaft, Blut und Boden.
Damit ist das selbsternannte moderne Spezifikum des nicht an Orte gebundenen
"sprachlichen Diskurses" ad absurdum geführt. Es gilt nicht für
Deleuze.
Mit diesem Band vier der Reihe Traversen bei Matthes und Seitz liegt wieder
einmal ein Buch vor, welches das Zeug zum Standardwerk - hier über Deleuze -
hat. Wie schon die Ausgabe der Traversen zwei: "Kritik der repräentativen
Demokratie", handelt es sich um literarischen Sprengstoff, den die dröge
Literatur der Gegenwart nötig hat. Literatur und Philosophie hängen mit
Deleuze komplementär zusammen. Mit der Dissoziation der Trias Ich - Sprache
-Welt, eine philosophische Homologie des 19. Jahhrunderts, zergeht die Idee
einer homogenen Wirklichkeit, die "steuerbar",
"demokratisch", "menschenrechtsorientiert" oder
"freiheitlich" ist. Deleuzes vitalistisches Credo dagegen stellt das
Denken in den Dienst des wahrhaften Lebens - ein Leben, das sich nicht der
Hybris preisgibt, in eine ideologische Form gegossen zu werden.
Mit anderen Worten: Deleuze hat sein Leben lang über die Differenz im Gegensatz
zum vereinheitlichenden Universalismus nachgedacht. Und es kann nur ein Ergebnis
geben: Die universalistische Maßlosigkeit schlägt in Heuchelei und Jammern um.
Das Gegenbild aber ist der Mensch, der sich der Endlichkeit bewußt ist und
dennoch seine Rolle spielt. Es ist das amor fati, das ihn bestimmt, das
Gegenteil von Frustration, die tragische Haltung. Er weiß, daß dem durch die
Differenz hervorgerufenen Kampf nicht immer ausgewichen werden kann und er
scheut ihn deshalb auch nicht. Er ist gewillt, seinen Gegenspieler zu
vernichten, wenn sich die Frage stellt "Du oder Ich". Er wird es aber
niemals deshalb tun, weil der Gegner der falschen Religion anhängt oder
universalistische Ideologien entlarvt. Er wird deshalb das Phantom einer
vermeintlich falschen Religion zum Zwecke einer "Homologisierung" des
Glaubens und Meinens und zur Auslöschung von Differenz auch niemals
aufzuspüren versuchen. - Er lebt.
Fazit
Philosophie im Dienste des reinen Lebens.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
[Profil]
veröffentlicht am 30. November 2008 2008-11-30 11:34:59