Schopenhauers Schriften gründen auf Erfahrung und auf den Lektionen des eigenen
Lebens selbst, die auch dann noch standhalten, wenn alles Chimärische des
ichbezogenen Wollens, alle Eitelkeiten und maßlosen Sehnsüchte von der
Wirklichkeit korrigiert worden sind. Neben diesen Lebenserfahrungen des
Philosophen standen bisher seine politische Theorie und diejenige seiner
philosophischen Nachfolger kaum im Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Die
allermeiste Gesellschaft nämlich ist für Schopenhauer so beschaffen, daß, wer
sie gegen Einsamkeit eintauscht, einen guten Handel macht. Die wirklich gute
Gesellschaft sei nötig und überall sehr klein. Je höher einer auf der
Rangliste der Natur steht, desto einsamer steht er, wesentlich und
unvermeidlich.
Auch in der Gesellschaft sollte man in gewissem Grade allein sein - das gelte es
zu erlernen. Der Mensch ist für Schopenhauer im Grunde ein wildes und
entsetzliches Tier, das man bloß im Zustande der Bändigung und Zähmung,
welcher Zivilisation heißt, kenne. Daher erschrecken uns die gelegentlichen
Ausbrüche seiner Natur. Aber wo und wann einmal Schloss und Kette der
gesetzlichen Ordnung abfallen und Anarchie eintritt, da zeigt sich, was
Schopenhauer meint: Die überall zur Schau getragene Rechtlichkeit der
Gesinnung, welche über jeden Zweifel erhaben sein will, nebst der hohen
Indignation, welche durch die leiseste Andeutung eines Verdachts in dieser
Hinsicht rege wird und bereit ist, in den feurigsten Zorn überzugehen. Es
verwundert kaum, daß Schopenhauer das Recht an sich selbst als machtlos
betrachtet. Von Natur aus herrsche die Gewalt. Die Ungerechtigkeit liegt tief im
menschlichen Wesen. Die Völker sind eigentlich bloße Abstraktionen: die
Individuen allein existieren wirklich. Jede Nation spottet über die andere und
alle haben Recht. Soweit das Denken Schopenhauers.
Doch im Glück beruht für ihn die Seelenruhe. Ein Pessimist war Schopenhauer
nämlich gerade nicht, wenn man sein Ziel betrachtet. Er war vielmehr ein
ethisch anspruchsvoller Realist. Er begreift das Unerfreuliche als eine
gesetzmäßige Abhängigkeit vom Willen, die allein der Erkennende zu
durchbrechen vermag. Leben und Leiden sind nicht zu trennen, das Ausmaß des
Leidens ist in den meisten Fällen aber zu begrenzen, hält sich aber generell
auf ein ganzes Leben gemessen immer die Wage. Es gibt keinen leidfreien Zustand,
auch nicht jenen, der für einen solchen gehalten wird. Hierzu hält er es für
unerlässlich, auf die Gesetze der Natur zu achten. Unglücklichsein entsteht
nicht aus den Umständen, wie gut oder schlecht sie auch seien, sondern aus dem,
was wir selbst in unserer Vorstellung daraus machen. Die Welt ist allein als
Vorstellung gegeben. Die Natur irrt nicht und der Mensch ist nicht aus Nichts
geworden. Schopenhauers Lehre der politischen und zwischenmenschlichen
Grundhaltungen liest sich wie eine Schulung zur besseren Bewältigung des
Unvermeidlichen und zur Vermeidung des nicht schicksalhaft auftretenden
Unglücks.
Ganz klar, daß auch vor diesem Hintergrund die Verbreitung des Buddhismus in
Deutschland vor allem auf ihn zurückgeht. Der Philosoph sah in der Religion
einen Gegenentwurf zur abendländischen Metaphysik, deutete deren
Erkenntnisstreben als Mittel, um die geistige Isolierung des Individuums zu
durchbrechen ("Die Welt als Wille und Vorstellung"). Schopenhauer fand
zahlreiche Verbindungen zwischen seiner eigenen Philosophie und der
buddhistischen Lehre, etwa den Atheismus. Die Begeisterung vieler
Intellektueller wie auch die ersten Übersetzungen der asiatischen Schriften
gehen vor allem auf Schopenhauer zurück.
Um das Thema Schopenhauer und die Politik ins Bewußtsein der Öffentlichkeit zu
rücken und um einen ersten wirklichen Überblick über mögliche
Forschungsfelder zu geben, wurde im Herbst 2005 von der
Schopenhauer-Gesellschaft in Frankfurt eine kleine Tagung mit dem Titel Politik
und Gesellschaft im Umkreis Arthur Schopenhauers veranstaltet, deren Beiträge
im vorliegenden Band veröffentlicht werden. An den Anfang ist im Sinne einer
Einführung in das Thema eine Darlegung allgemeiner Grundgedanken und -probleme
gesetzt, die sich aus dem Werk und auch aus der Biographie Schopenhauers
ableiten lassen, teils um den mit Schopenhauer noch nicht so vertrauten Leser
mit ihnen bekannt zu machen, teils um sie zusammenfassend in Erinnerung zu
bringen. Ihm folgen zwei Arbeiten über Schopenhauer, die zwei bisher kaum
behandelte Aspekte seines Verhältnisses zu Politik und Gesellschaft
thematisieren, und zwei Beiträge aus dem Umkreis Schopenhauers mit einem
abschließenden Schwerpunkt bei Philipp Mainländer. Die Internationale Philipp
Mainländer-Gesellschaft sieht eine ihrer Aufgaben darin, die Diskussion um sein
Verhältnis zu Schopenhauer zu fordern und zu fördern. Für die dafür
unerläßliche Zusammenarbeit mit der Schopenhauer-Gesellschaft ist dieser
Tagungsband, der als Band 1 der Mainländer-Studien erscheint, ein erstes
Beispiel. Die Herausgeber Matthias Koßler ist apl. Professor für Philosophie
an der Universtiät Mainz. Winfried H. Müller-Seyfarth, Dr. phil., studierte
Philosophie und Germanistik; Herausgeber der Werke von Philipp Mainländer und
Julius Bahnsen.
Besser ist bisher kaum zuvor Schopenhauers politisches Denken kompakt dargelegt
worden, als in den Beiträgen des vorliegenden Bandes. Ein Reich der Gnade
selbst mit dem Kantischen Postulat der praktischen Vernunft steht bei
Schopenhauer als Alternative zum vom Willen zum Leben bestimmten Reich der Natur
nicht zur Verfügung. Hinter Hegels dunkler Sprache treten für Schopenhauer
sodann Ansichten hervor, die nicht akzeptiert werden können. Dazu gehören nach
Schopenhauers Meinung zügellose metaphysische Spekulationen, die oft
unbeweisbar und gewagt sind und - trotz ihres Anspruches, in einer von Kant
begründeten Tradition zu stehen - in Wahrheit eine Absage an dessen methodische
Strenge darstellen.
Aber auch die praktischen Ergebnisse sind für Schopenhauer unbefriedigend z.B.
auf dem Feld der Politik und Rechtslehre. Der von Preußen begeisterte Hegel
verherrlicht etwa den Staat als die "Wirkung der sittlichen Idee" und
fordert vom Einzelnen fast völlige Aufopferung. Schopenhauer steht folgender
Auffassung nahe: Aus seiner Sicht stoßen die egoistischen "Willen"
der Menschen ständig zusammen; Rechte werden so eingeschränkt und verletzt -
ein "Krieg aller gegen alle" entsteht, eine Hobbessche Vorstellung,
die Schopenhauer übernimmt. Für den pragmatischen Zweck, die Menschen vor den
egoistischen Übergriffen des jeweils anderen zu schützen, wird der Staat
geschaffen; er ist also ein Instrument für die Sicherheit der Menschen, die
Hauptzweck der Politik sind und bleiben. Dieses Instrument der Staatsmacht ist
aber beileibe nicht perfekt; und moralische Erhöhungen desselben sind
unangebracht. In einer eindeutig gegen Hegel gerichteten Stelle (Grundlage der
Moral §17) bemerkt er über den Staat: "Einige deutsche Philosophaster
dieses feilen Zeitalters möchten ihn verdrehen zu einer Moralitäts-,
Erziehungs- und Erbauungsanstalt: wobei im Hintergrunde der Jesuitische Zweck
lauert, die persönliche Freiheit und individuelle Entwicklung des Einzelnen
aufzuheben, um ihn zum bloßen Rade einer chinesischen Staats- und
Religions-Maschine zu machen."
Der vorliegende Band zeichnet sich durch seine Detailfreudigkeit in Sachen
Grundgedanken zur Gesellschaft und Politik aus. Schopenhauer geht z.B. aber auch
im Gegensatz zu Hobbes davon aus, daß das Recht nicht erst durch souveräne
Setzung sondern schon im Naturzustand Geltung hat. Der Staat muß das Recht also
nicht erst schaffen, sondern schützen - mehr nicht. Hier sehen wir den Grund
für die Ablehnung der überbordenden Staatsvergottung. Aber auch eine
bedeutende Analogie zwischen Schopenhauer und Denkern der Gegenwart wie John
Rawls wird offenbart: Die Theorie der Gerechtigkeit gehört mit Schopenhauer zur
philosophischen Anthropologie. Schopenhauers "Schleier der Maya" und
Rawls "Schleier des Nichtwissens" gehören zusammen. Sie haben die
Doppelfunktion, den Weltlauf sichtbar zu machen und verdecken ihn zugleich so
weit, daß Menschen trotz aller Egoismen in ihren Handlungen sich in ihrem Sein
als Bürger respektieren. Zugleich wird in einem weiteren Beitrag dargelegt,
daß Nihilismus kein Pessimismus ist und der Vorwurf des Pessimismus als
Grundhaltung des deutschen Denkens nicht haltbar ist, kommt doch ein
pessimistisches Denken auch bei vielen Idealisten vor. Es muß also eine andere
Wurzel haben. Der Verweis auf Hölderlins Elegie des Nichts aus seinem Werk
"Hyperion" im XI. Brief an Bellarmin enthält ebenso eine
nihilistische Perspektive wie sie auch Nietzsche vertrat. Und nur wenige wie
Kleist, Hölderlin und Nietzsche machten existentiellen Ernst mit ihrer
Erkenntnis. Sie sind lebende Protokolle ihres Scheiterns und damit Dokumente
intellektueller Rechtschaffenheit gerade in Deutschland. Pessimismus heißt
also, die Existenz als nichts wert zu erleben oder als weniger wert, als
mögliche Belohnungen in derselben es rechtfertigen würden. Sie, die Existenz,
sollte hiernach besser nicht sein. Der Nihilismus jedoch enthält nicht diese
ethische Dimension des Pessimismus.
Bei Philipp Mainländer als politischer Staatsidealist wird die Erkenntnis noch
erweitert, dahingehend, daß alles was ist, immer schon erkannt und zwingend
atheistisch ist und damit potentiell nihilistisch betrachtbar ist. Diese
Ontologie des Leidens macht das Leiden zur Triebfeder der Erkenntnis, die von
der Herrschaft des Willens befreit ist. Die Verknüpfung zur Politik sieht dann
so aus, daß die Aufgabe der Gemeinschaft darin besteht, soziale Überzeugungen
und das Wohlergehen nur im Denken an die Mitmenschen zu ermöglichen zu
können.. Mainländer erweitert den Pessimismus Schopenhauers darin, daß sich
gerade Leid durch Erkenntnis tilgen läßt und daß Leid zur Erkenntnis führt.
Dieser erkenntnistheoretische Pessimismus hat mit der den Deutschen oft
vorgeworfenen Resignation oder ihrem vermeintlichen Pessimismus nichts zu tun.
Er ist erkenntnistheoretischer Natur und beinhaltet immer auch den Weg zur
eigenen Lösung, die notwendig eine Individuelle sein muß, so wie Schopenhauer
sie sich ebenso dachte. Es ist dies eine Lebenshaltung, die nicht beim
Pessimismus halt macht, sondern ihn als Brücke in neue denkerische Dimensionen
nutzt. "Pessimismus" kann damit kein banaler Vorwurf mehr bleiben,
sondern hat das Recht auf eine Binnendifferenzierung.
Fazit
Das vorliegende Buch eröffnet Weg des politischen Denkens, welche gerade aus
dem Lager deutscher Pessimisten und dem Lager derjenigen, die gerade durch ihren
Pessimismus keine Pessimisten mehr sind, unerhört innovativ auftreten.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
[Profil]
veröffentlicht am 10. November 2008 2008-11-10 12:29:15