Philosophie für Vorgebildete - so könnte man Blumenbergs reichhaltiges und
überaus zitierfreudiges Werk wohl nennen. Es ist kein Buch für Erstleser. Wer
sich Blumenbergs Gedankengängen und Argumentationsmustern anvertrauen möchte,
tut gut daran, die Texte von Homer, Hesiod und Aischylos eingehend zu
konsultieren. Danach liest er Blumenberg mit mehr Gewinn.
In seiner knapp 700 Seiten umfassenden Darstellung, deren erste Auflage 1979
erschien, setzt sich der 1996 verstorbene Münsteraner Philosophie-Professor mit
der Frage auseinander, was es bedeutet, wenn der Mensch sich einen Mythos
schafft. In fünf Hauptabschnitten, die in Unterkapitel gegliedert sind und
zusammen kein streng systematisch geordnetes Ganzes bilden, unternimmt
Blumenberg einen klärenden Gang durch die scheinbaren Selbstverständlichkeiten
einiger menschheitsgeschichtlicher Grundüberzeugungen.
Blumenberg philosophiert für sich, nicht für die Weltöffentlichkeit. Wer
diese erste Ernüchterung verwinden kann, findet in ihm dafür einen versierten
Weg-Gefährten, dessen Gedanken klar auf den jeweiligen Gegenstand der
Untersuchung gerichtet sind: Nüchternheit statt Erhebung. Blumenberg vermeidet
es konsequent, sich selbst - und damit den Leser - über Erkenntnisse oder
Eingeständnisse hinwegzutäuschen. Da Blumenberg nach gedanklicher Tiefe
strebt, führen seine Überlegungen eher an den Abgrund der Wahrheit als in den
Himmel der Ideen. Warum sollte es sich auf dem Boden der Tatsachen auch bequem
liegen? Was finden wir also mit Blumenberg, wenn wir den Dingen und uns selbst
auf den Grund gehen? Die schmucklos-nüchterne Antwort lautet: nichts. Wie eine
vierte große Kränkung des menschlichen Selbstverständnisses bricht diese
Erkenntnis in die uneingestandene Alltäglichkeit unserer Existenz hinein: Wir
leben nicht im Zentrum des Universums, bilden nicht die Krone der Schöpfung,
sind nicht einmal Herr im eigenen Haus der Seele. Und jetzt auch noch dies: Wir
leben im Nichts - unser Dasein hat weder Grund noch Berechtigung.
Erst mit dieser Feststellung sowie den damit verbundenen Zumutungen und
Einsichten für den Menschen wird es Blumenberg möglich, das Fundament seiner
Philosophie des Mythos zu errichten. Das Eingeständnis der
'Seinsgrundlosigkeit' des Menschen führt den Leser - nach einer kurzen
Verkraftungspause - zu der Frage, wie es denn komme, dass der Mensch diesen
Umstand bisher so gut wie nicht bemerkt haben scheint und all die Jahre mehr
oder weniger sorglos und strebsam leben konnten. Blumenbergs Antwort ist so
einfach wie plausibel: Weil der Mensch von seiner eigenen Nichtigkeit nichts
wissen will, schafft er sich eine eigene Welt, in der es so etwas wie einen
besonderen oder berechtigenden Grund für sein Weiterleben und Fortkommen gibt.
Dies ist die Sphäre der 'Bedeutsamkeit'. Der Mensch braucht sie, um sich gegen
das unmittelbare So-Sein der Welt - Blumenberg nennt es den 'Absolutismus der
Wirklichkeit' - behaupten zu können.
Und hier kommt der Mythos ins Spiel. Als gleichsam ontologisches Korrektiv ist
er vom Menschen als Werkzeug für dessen Arbeit an der Wirklichkeit geschaffen
worden. Mit seiner Hilfe bildet sich der Mensch ein Reich der 'Bedeutsamkeit',
das die Angst vor dem Überhandnehmen des 'Absolutismus der Wirklichkeit'
abzuwehren vermag. Je nach Beschaffenheit des Mythos gelingt dies dem Menschen
mehr oder weniger gut. Er kann sich jedoch nur scheinbar entziehen, da immer
wieder Bruchstücke der Wirklichkeit in den Mythos hineinragen. Es entsteht
lediglich ein Zwischenreich, das jenseits von Mensch und Wirklichkeit liegen
soll. In dieser Sphäre ist der Mensch weder ein absolut hilflos ausgeliefertes
Mängelwesen noch ein vollkommen autonomes und daseinsberechtigtes Subjekt.
Da es nach Blumenberg keinen Abschluss des Mythos gibt oder geben kann, besteht
zu jeder Zeit ein Wechselspiel zwischen den Extrempunkten Wirklichkeit und
Mensch. Dieses Spiel lässt den Mythos entstehen und formt seine Gestalt. So
sucht Blumenberg am Beispiel des Prometheus-Mythos beziehungsweise
Prometheus-Mythologems zu zeigen, wie sich der Mensch, nachdem er zu überleben
gelernt hat, seinen Platz in einem Kosmos sichern will, den er zunehmend auch
gedanklich durchdringen und definieren muss. Kennt man die griechischen Götter
mit ihren Absichten und Eigenschaften, so findet man sich in Blumenbergs
Darstellung leichter zurecht und kann somit die Ansichten eines Mannes schätzen
lernen, der den großen Gestaltern des Mythos auf der Spur ist. Wer neugierig
auf Erkenntnisse und Einsichten über den Menschen - und nicht zuletzt über
sich selbst - ist, dem sei Blumenberg als kundiger Fährtenleser auf den sich
immer wieder verschlingenden Pfaden der menschlichen Kulturgeschichte
ausdrücklich empfohlen.
Fazit
Man findet die Weltsicht eines Philosophen vor, dessen Reichhaltigkeit erst noch
erschlossen werden muss.
Vorgeschlagen von Florian Mall
[Profil]
veröffentlicht am 09. November 2008 2008-11-09 09:07:11