Annette Großbongardt lebte als SPIEGEL-Korrespondentin zwei Jahre lang in
Istanbul. Sie führt uns in ihrem Stadtviertel zu Händlern und in Teestuben und
zeichnet so ein stimmungsvolles Bild der türkischen Metropole. In Istanbul
treffen die unterschiedlichsten Menschen aufeinander: Religiöse, Säkulare,
Nationalisten, Europäer, Städter und Zuwanderer vom Land. Über die beinahe
provinzielle Idylle des Istanbuler Alltags hinaus portraitiert die Autorin in
einer Momentaufnahme ein faszinierendes Land an der Schwelle zu Europa. Von der
Geschichte, als Istanbul im 13. Jahrhundert von Genueser Kaufleuten gegründet
wurde, bis zu den Verkehrsproblemen der Gegenwart zeigt Grossbongardt ein
facettenreiches Bild der 12-Millionen-Stadt. Als Leser muss man sich immer
wieder dem Kontrast zwischen Anspruch und Wirklichkeit stellen, sei es in der
Frage religiöser Gleichberechtigung für Christen, Griechen und Juden oder in
der Kopftuchfrage. Am Beispiel des umstrittenen Auftretens der Ehefrauen von
Abdullah Gül und Tayyip Erdogan spürt Großbongardt der Frage nach, was
Säkularisierung in der Türkei von heute bedeutet, ob die Türkei seit
Atatürks Zeiten tatsächlich konservativer und islamischer geworden ist und
welche Menschen hinter den Schlagzeilen zu finden sind.
Die Autorin beschränkt sich nicht auf die Kopftuchfrage, sie zeigt aus
unterschiedlichsten Perspektiven, wie sich Reformen und Veränderungen auf das
Leben von Frauen auswirken. Ümit Boyner ist Vizepräsidentin des
Unternehmerverbandes und muss sich als Leiterin einer Image-Kampagne mit den
Vorbehalten im Ausland gegenüber der Türkei auseinandersetzen. Sie sieht das
größte Problem darin, dass "die Türkei nur über die Gastarbeiter
wahrgenommen wird". Sie selbst steht für eine Generation exzellent
ausgebildeter Akademikerinnen und Unternehmerinnen. Am Schicksal eines jungen
Arbeiters, der aus Anatolien nach Istanbul kam, zeigt die Autorin eine
Vom-Schuhputzer-zum-Händler-Karriere und zugleich ein treffendes Beispiel
dafür, wie mangelnde Bildung der boomenden türkischen Wirtschaft als
Wachstumshindernis im Weg steht.
Fazit
Annette Großbongardt vermittelt den Charme der Türkei, den wir im Urlaub
schätzen, ohne die Widersprüche zu verschweigen, die sich in Morden an
Christen und Journalisten, der Klage gegen Orhan Pamuk oder im Umgang mit den
Kurden zeigen. Ihr Buch eignet sich als Urlaubslektüre, regt mit
Literaturhinweisen auf 2005 bis 2007 erschienene Buchtitel aber auch an, sich
ausführlicher mit dem Thema Türkei zu beschäftigen. Mit Istanbul Blues legt
die Autorin ein aktuelles, anregendes Portrait der Türkei vor, mit dem sie
ihren Lesern den Knoten im eigenen Kopf bei der Wahrnehmung des zukünftigen
EU-Staates bewusst macht.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 02. September 2008 2008-09-02 09:45:50