Der Neuropsychologe Elkhonon Goldberg preist weder Gymnastikprogramme noch
Nahrungsergänzungsmittel für Senioren an. Seine "Weisheitsformel"
verknüpft die persönliche Betroffenheit eines alternden Wissenschaftlers (so
definiert er sich selbst) mit langjähriger Erfahrung in Lehre und Forschung.
Goldberg setzt sich zunächst mit dem eigenen Altern auseinander, indem er sein
Gehirn im Kernspin-Tomographen untersuchen lässt. Freunde und Kollegen finden
diese Neugier morbid. Sie sehen nicht ein, weshalb Goldberg einen Befund
erfahren will, der möglicherweise nicht zu ändern sei.
Goldberg stellt fest, dass in vielen Kulturen Weisheit nur alten Menschen
zugeschrieben wird. Gleichzeitig erwarten wir, dass im Alter die geistige
Leistungsfähigkeit nachlassen wird. Mit zunehmendem Alter seien beruflich und
privat jedoch weniger anstrengende kognitive Aufgaben zu erfüllen und weniger
Kämpfe auszufechten. Viele Tätigkeiten würden durch Routine und Erfahrung
erleichtert. Goldberg vermutet, dass die menschliche Spezies noch lange nach
Ende der Fortpflanzungsfähigkeit weiter lebt, um der folgenden Generation ihr
Wissen zu vermitteln und so einen Beitrag zum Überleben der Art zu leisten.
Goldberg beschreibt, wie Menschen Weisheit erlangen und ob diese Weisheit
degenerative Prozesse im Gehirn verhindern kann. Er definiert Weisheit als die
Fähigkeit, alte und neue Themen miteinander zu verknüpfen und Probleme zu
lösen, indem man gemeinsame Muster erkennt. Wer Ähnlichkeiten wahrnimmt, kann
auch scheinbar neue Probleme lösen. Ein Repertoire an Mustern führt zur
Entwicklung eines generischen Gedächtnisses, das uns zum Beispiel
Gemeinsamkeiten zwischen allen Schneestürmen, allen politischen Krisen oder
allen mathematischen Gleichungen erkennen lässt. Die neurologische Untersuchung
von Patienten mit Hirnverletzungen kam zu dem Ergebnis, dass das generische
Gedächtnis sehr stabil und wenig anfällig für Hirnschädigungen ist.
Der Autor stellt dar, wie sich ein Gehirn entwickelt, wie es altert und wo die
Grenze zwischen normalem Alterungsprozess und krankhaften Vorgängen zu ziehen
ist. Aus ärztlicher Perspektive beschreibt er prominente Persönlichkeiten,
die trotz alters- oder krankheitsbedingter Ausfälle noch Außergewöhnliches
leisten konnten. Bekannte Politiker der Zeitgeschichte verfügten im Alter über
große Machtfülle, obwohl ihr kognitiver Niedergang schon begonnen hatte.
Goldberg zählt dazu Ronald Reagan, Hitler, Stalin, Lenin, Mao, Woodrow Wilson,
Roosevelt, Churchill, Breschnew, Jelzin und Margaret Thatcher.
Goldberg beschreibt die Vorgänge im Gehirn wie Wasserläufe: dort wo
regelmäßig oder viel Wasser fließt, sind Bäche oder Priele tiefer
eingeschnitten. Die rechte Hirnhälfte sei zunächst für jede
Auseinandersetzung mit neuen Inhalten zuständig. Die linke Hälfte sei das
Instrument zur Erkennung gemeinsamer Muster. Jede Musterbildung müsse zunächst
rechts verarbeitet werden und später an die linke Hirnhälfte weiter gegeben
werden. Beide Hirnhälften seien sehr unterschiedlich von Abbauprozessen im
Alter betroffen: die Funktion der rechten Hälfte könne schon vor dem 30.
Lebensjahr beeinträchtigt sein, die der linken erst sehr viel später. Eine
links abgelegte Mustersammlung unterstütze beim weisen Menschen das Einschlagen
von Abkürzungen bei Problemlösungen. Die stärkere Nutzung des links abgelegte
Erfahrungswissen im Alter würde dem Abbauprozess vorbeugen. Im Gegensatz zu
bisher gelehrten Erkenntnissen versichert Goldberg, dass das menschliche Hirn
zur Regeneration fähig sei. Als Beispiel führt er Taxifahrer-Gehirne an, in
denen je nach Anzahl der Berufsjahre der Hippocampus besonders ausgeprägt sei -
der zuständige Bereich für die Routenspeicherung. Ähnliche Diagnosen wurden
an Musiker- und Jongleur-Gehirnen gestellt, die nachweislich von regelmäßiger
Aktivität profitieren. Auch Zweisprachler hätten deutlich mehr Neuronen in der
linken Hirnhälfte entwickelt. Dass wir alte Menschen als weise erleben, führt
der Autor auch darauf zurück, dass man im Alter weniger auf negative Reize
reagiere. Goldberg nutzt sein neuropsychologisches Wissen, um geistig rege
Patienten zu beraten, die einem befürchteten kognitiven Verfall im Alter
rechtzeitig vorbeugen wollen. Dazu hat er ein "cognitive enhancement
program" entwickelt, eine Art Fitness-Studio für den Geist, das aber nicht
Thema seines Buches ist.
Fazit
Elkhonon Goldberg beschreibt seinen eigenen mentalen Zustand mit Witz und
Selbstkritik, lässt mit Beispielen alternder Politiker ein visuelles Bild des
Alterns vor dem Auge seiner Leser entstehen und stellt die Ergebnisse seiner
Untersuchungen verständlich dar. Dass Goldberg ein wissenschaftliches Thema von
der ersten bis zur letzten Seite fesselnd vermitteln kann, mag auch daran
liegen, dass er als Emigrant zwei Sprachen nutzt und so beide Hirnhälften
ständig in Bewegung hält.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 16. März 2007 2007-03-16 12:28:40