Nie im Leben wäre Mikaela auf die Idee gekommen, ein Buch zu lesen oder von
fernen Welten zu träumen. Die 12-Jährige ist anscheinend das phantasieloseste
Mädchen in ganz Schweden. Bei einem Museumsbesuch ihrer Schulklasse steckt sich
Mikaela einen jahrhundertealten Bernstein ein. In einem anderen Zeitalter auf
der abgelegenen Ostinsel erhält die 15-jährige Erna eines Tages von einem
Besucher auch einen gelblichen Stein. Ernas Mitbürger leben in der Epoche
zwischen der Kaiserzeit und dem von ihnen erträumten goldenen Zeitalter; ihr
Kaiser ist verschwunden. Das Reich scheint in eine Krise geraten zu sein, weil
sein Herrscher allerhöchst anspruchsvoll erwartete, dass seine Umgebung stets
harmonisch, ausgewogen und symmetrisch zu sein hatte. Weder seine Untertanen
noch seine eigene Tochter konnten diesen übertriebenen Ansprüchen genügen. Im
mühseligen Alltag finden die kaiserlosen Insulaner Trost in Erzählungen von
der gefangen gehaltenen Kaisertochter und in der Prophezeiung von zwei
Kaiserkindern, die ihnen eines Tages eine glänzende Zukunft bringen werden.
In unserer Zeit wird Mikaela zu ihrer Verblüffung vom Aufzug ihres Wohnhauses
in eine andere, sehr idyllische Welt transportiert. Dort wird sie von den
Menschen sofort freudig als lang ersehntes kaiserliches Kind begrüßt.
Ausgerechnet Mikaela, der Phantastik gleichgültig ist, gelangt in eine fremde
Welt! Als Mikaela nach einem kurzen Zwischenstopp in unserer Zeit ein zweites
Mal mit dem Aufzug fährt, ist dummerweise Tobias, der im selben Haus wohnt,
schon in der Kabine, so dass beide Kinder gemeinsam in die magische Welt
transportiert werden. Mikaela ist ganz und gar nicht scharf darauf, mit dem nur
wenig jüngeren Tobias gemeinsam unterwegs zu sein, auf den sie bisher stets
herabgesehen hatte. Bei ihrer Ankunft im Kaiserreich werden Mikaela und Tobias
gleich in einer eleganten Sänfte davon getragen; denn sie sollen auf die weite
Reise in den Kaiserpalast des Festlands geschickt werden, um den Kaiser zur
Rückkehr zu seinen Untertanen zu bewegen. Der Geselle Mundt und die junge Emma
werden die beiden Kinder quer durchs Reich bis in die Kaiserstadt begleiten.
"Das ist ja wie im Zauberer von Oz" weiß Tobias die Ereignisse gleich
richtig zu deuten. Im Gegensatz zur motzenden Mikaela genießt Tobias nicht nur
die fremde Welt; er ist mit phantastischen Details, wie dem der besonderen
Funktion von Schränken, vertraut und fühlt sich nun als Held mit einem
wichtigen Auftrag. Der ergebene Mundt, der die "kaiserlichen Kinder"
im Dienste seines Herrschers beschützen will und die zurückhaltende Emma, die
anscheinend von einem Geheimnis umgeben ist, werden auf der Reise von einer
Räuberbande entführt und gefangen gehalten. Den beiden Kindern gelingt die
Flucht. Nach aufregenden Abenteuern zur Rettung ihrer Reisegefährten lernen
Mikaela und Tobias durch ihre Begegnung mit Linnea und Laban schließlich die
Harmonieansprüche des Kaisers mit dem Wissen der Gegenwart richtig einzuordnen;
der Handlungsbogen findet wieder Anschluss an die Gegenwart. Im Laufe der Reise
ist es Mikaela, der die Widersprüche im vorgeblich idyllischen Kaiserreich und
im schlichten Weltbild seiner Bewohner auffallen. Armut, Sklaverei und
Kinderarmut, die überall zu beobachten sind, lassen sich nach Mikaelas Ansicht
nicht mit dem Glauben an einen gütigen Herrscher vereinbaren. Als Kind der
Gegenwart sieht die 12-Jährige einen Ausweg aus der Misere darin, dass die
Bürger des Zwischen-Zeitalters ihre Angelegenheiten endlich selbst in die Hand
nehmen. Die kritische Mikaela, der Phantastik gleichgültig ist, erlebt in Ylva
Karlssons Roman eine erstaunliche Reifung, die sie ihre Reisegefährten mit
anderen Augen sehen lässt als zu Beginn der Reise. Im mittleren Teil des
Buches knickt die Spannungskurve unter anderem deshalb ein, weil die innere
Motivation der zeitreisenden Mikaela, trotz ihrer Zweifel die Reise
fortzusetzen, wenig überzeugend dargestellt ist.
Ylva Karlsson führt ihre Leser in eine fantastische Welt mit eigener Sprache
und eigener Gesellschaftsform. Die Handlung kommt weitgehend ohne Hilfe
magischer Fähigkeiten aus; glückliche Wendungen sind meist dem Zufall zu
verdanken. Nicht alle Rätsel werden aufgelöst, beim Lesen bleibt genug Raum
für die eigene Vorstellungskraft. Die Autorin formuliert mit leichter Ironie,
die sie durch direkte Ansprache ihrer Leser verstärkt, wenn sie abwechselnd
Zugeständnisse macht oder Leser-Erwartungen absichtlich enttäuscht.
Fazit
"Die Reise zum Kaiser" ist ein Jugendroman der leisen Töne ohne
durchgehenden Spannungsbogen. Das Buch fasziniert mit seiner überzeugend
gezeichneten phantastischen Welt, die sich bis in die Details des täglichen
Lebens, die Sprache der Zeit und die Gedankenwelt der Menschen vor den Augen der
Leser entfaltet. Die Autorin fesselt ihr Publikum mit der inneren Entwicklung
ihrer Helden, sowie dem Zusammenspiel der jungen und erwachsenen
Reise-Gefährten. Wer in einem phantastischen Roman ohne Schlachtengerassel
auskommt, kann sich mit Genuss von Ylva Karlsson in Muths und Ernas Welt
entführen lassen.
Vorgeschlagen von Helga Buss
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veröffentlicht am 18. Juli 2008 2008-07-18 13:55:01