Iris Berger ist zur Beisetzung ihrer Großmutter aus Freiburg nach
Norddeutschland gekommen. Überraschend hat Oma Bertha der Ich-Erzählerin ihr
Haus vererbt und nicht Iris Mutter Christa. Iris verbringt einige Tage allein in
Oma Berthas Haus, einem ausgedehnten Gemäuer mit Diele, Wirtschaftsräumen,
einem Gemüse- und einem Obstgarten. Berta, an Altersdemenz erkrankt, hatte die
letzten Jahre vor ihrem Tod in einem Pflegeheim verbracht. Für Iris, die als
Kind in den Sommerferien regelmäßig aus Süddeutschland zu Oma Berta kam,
scheint in diesem Haus Zeit still zu stehen. Die Schränke sind gefüllt mit
Kleidern von Iris Tanten, die Aussteuertruhen erwecken den Eindruck als sei das
Haus noch immer bewohnt und im überwucherten Küchengarten hat eine
fürsorgliche Hand sogar Petersilie ausgesät. Iris tritt in das Leben dreier
Frauen-Generationen. Großmutter Bertha (verheiratet mit Hinnerk Lünschen)
ihre Schwester Anna, Berthas Töchter Christa (Iris Mutter), Inga und Harriet
und schließlich Iris, Mira und Rosmarie, die die Sommer ihrer Jugend gemeinsam
in Bootshaven verbrachten. Rosmarie verunglückte mit 16 Jahren und wird in der
Erinnerung ihrer Cousinen stets 16 Jahre alt bleiben. In den Erzählungen der
Kränzchenschwestern Berthas und des pensionierten Lehrers Carsten Lexow werden
Bertha Lünschen und ihre Schwester Anna wieder zu kleinen Mädchen. Nach langer
Zeit fragt sich Iris, was ihr Großvater Hinnerk wohl für ein Mensch gewesen
ist. Hinter Bildern von schattigen Linden, von Apfelernte und Marmelade-Kochen
verbergen sich Iris Erinnerungen an die beginnende Demenz Berthas, deren
Anzeichen die Familie erst im Rückblick richtig einordnen kann. Die
einfühlsame Beschreibung von Berthas Demenz und das nüchterne Urteil der
Patientin über ihre schwindenden mentalen Fähigkeiten gehören zu den
anrührendsten Szenen des Buches. Erinnerungen an die Zeit der Cousinen als
"durchgeknallte Teenager", Erzählungen von früher und die
Atmosphäre des Hauses fügen sich allmählich zu den Höhen und Tiefen in Iris
Familiengeschichte. In den wenigen Tagen erzwungener Muße in Bootshaven sieht
Iris sich noch nicht in der Verantwortung für ein großes altes Haus und ein
verwildertes Grundstück. Sie erkennt, welch tief reichende Konflikte die Pflege
der dementen Großmutter auslöste zwischen Inga und Harriet, die die
Verantwortung für Bertha zu tragen hatten, und Christa, die sich nach Meinung
ihrer Schwestern zu leicht dieser Verantwortung entzog.
Fazit
"Der Geschmack von Apfelkernen" ist eine wenig spektakuläre
Geschichte, die sehr zurückhaltend das Erinnern, Verdrängen und Vergessen
thematisiert. Katherina Hagena zeichnet das treffende Porträt eines
norddeutschen Provinznests und seiner wenigen Bewohner. Die Hauptfigur Iris
findet sich inmitten von Personen und Geschichten, die sie erst allmählich
zuordnen kann - Geschichten, wie sie in der Familie Lünschen bei Kaffee und
Butterkuchen schon immer an Kinderohren vorbeischwebten. Katherina Hagenas
anrührende Bilder werden bei jedem Leser an unterschiedliche Erinnerungen und
Gefühle rühren. Mit der feinfühligen Schilderung von Berthas
Demenzerkrankung, die man der Ich-Erzählerin Iris zunächst gar nicht zutraut,
ist der "Der Geschmack von Apfelkernen" mehr als eine alltägliche
Familiengeschichte.
Vorgeschlagen von Helga Buss
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veröffentlicht am 13. Juli 2008 2008-07-13 15:05:38