Noch nie hat mich ein Buch so zerrissen, wie dieses. Einerseits hat es auf mich
den Eindruck gemacht, ein phantastisches Buch in der Hand zu halten. Nicht nur
vom Inhalt, sondern auch von der Aufmachung, dem gesetzten Text und den
eingefügten Bildern. Andererseits wäre ich bereit zu sagen, das Buch ist
nutzlos bedrucktes Papier. Eines ist jedoch sicher, es ist ein einmaliges Werk.
Für diejenigen die das Buch nicht mögen sicherlich beruhigend, für diejenigen
die es mögen ist jedoch klar, dass es kein entsprechendes Nachfolgewerk geben
kann. Mark Danielewski, und da bin ich mir sehr sicher, wird nicht in der Lage
sein, ein Buch zu schreiben, das ebenso kontrovers behandelt wird wie dieses.
Zudem ist die Erwartungshaltung seiner Leser inzwischen sehr hoch.
In der Einleitung des Buches wird die Behauptung aufgestellt, dass das Buch von
einem gewissen Zampanò stammt, der jedoch blind war. Gleichzeitig gibt er
bekannt in dem verlassenen Haus das Buch als eine Art Loseblattsammlung, daher
wohl der Name HOUSE OF LEAVES (HAUS DER BLÄTTER), gefunden zu haben. In
mühevoller Arbeit habe er, derjenige der die Einleitung schrieb, die Blätter
sortiert und als Buch zusammengefasst. Mit diesem, nicht neuen, erzählerischen
Trick ein Buch als Tatsachenbericht auszugeben, wird der Autor gleichsam zum
Bestandteil des Romans.
Eines Tages erhält der Extätowierer Johnny einen Anruf. Ein Freund von ihm
erzählt von einem verstorbenen blinden Mann. Gemeinsam machen sie sich daran,
die Wohnung zu durchsuchen. Der mit Geld- und Drogenproblemen behaftete Johnny
Truant findet ein überaus umfangreiches Manuskript. Während er sich mit dem
Buch beschäftigt, kommt Johnny Truant (sein Name lautet übersetzt
Schulschwänzer oder Faulenzer und ist Programm) zu dieser Einsicht, weder der
erfundene Dokumentarfilm besteht, noch das fast-wissenschaftliche Manuskript
oder gar die Anmerkungen als Fussnoten im Manuskript, sind je gedruckt oder
gesagt worden. Doch sei die wichtigste Anmerkung vorweg genommen. Wie hat der
blinde Mann darüber schreiben können? Ein Blinder sieht keinen Film, hört ihn
nur und schreiben, maximal Blindenschrift und die kann nicht jeder
Normalsterbliche. Die Unwahrscheinlichkeit wird von Truant und dem Leser
achselzuckend so übernommen. Johnny Truant versucht sich in die bizarre Welt
des verstorbenen Zampanò einzulesen. Je mehr Blätter er in die Hand bekommt
und liest, desto weniger kann er sich vom Inhalt lösen. Johnny verliert sich in
sich selbst und im Lesestoff, bei dem Versuch, die Loseblattsammlung zu ordnen
und selbst neu zu bewerten. Der Leser, der sich auf das Buch einlässt, verliert
sich gleichsam in der Handlung und überschreitet damit die unsichtbare Grenze
zwischen Leser und Handlungsträger. In dieser traurigen Welt lässt Mark
Danielewski Johnny immer wieder über sich selbst berichten, indem er Fussnoten
und Bemerkungen einfliessen lässt. Im Zentrum der Erzählung steht nicht etwa
der Erzähler und die Hilflosigkeit, etwas unbeschreibliches in Worten wieder zu
geben. Das Manuskript von Zampanò trägt den unbedeutend erscheinenden Titel,
Der Navidson-Report. Der Report scheint über weite Strecken ein kritisches
Begleitwerk zum gleichnamigen kritischen und wissenschaftlichen Film zu sein.
Dieser Film wurde vom preisgekrönten Will Navidson, einem Fotojournalist und
Pulitzerpreisträger gedreht. Doch es sei gleich gesagt, den Film und den Report
gibt es nicht wirklich. Johnny erkennt dies ebenfalls, ebenso wie zahlreiche
Quellenangaben und Anmerkungen eine reine Erfindung sind. Zu leicht ist man
gewillt, als Leserin oder Leser, Erfindung mit Tatsache gleich zu setzen und
sich möglicherweise in einer sehr obskuren Handlung zu verlieren. Im Zentrum
steht das seltsame Haus im ländlichen Virginia. Navidson der mit seiner
Familie dorthin zieht, scheint eine besondere Ähnlichkeit zum Haus zu haben.
Das Haus scheint jedoch ein Eigenleben zu führen, welches dazu führt, dass es
sich der besonderen Situation des Fotografen anpasst. Will Navidson will doch
nur in Ruhe leben, mit seiner Familie ein Familienleben führen, wie er es lange
Zeit nicht führen konnte. Das Haus der Blätter ist ein familienfreundliches
Haus, das mit der Familie mitwächst. Oder auch ohne. Für den Dokumentarfilmer
Will Navidson wird das Haus zu einem nervenaufreibenden Abenteuer. Er kann nicht
verstehen, warum das Haus, von aussen ganz normal anzusehen, innen sehr viel
mehr Platz bietet. Also versucht er, mit den Mitteln, die er beherrscht, dem
Haus Herr zu werden. Er setzt die Kamera ein um zu dokumentieren und Stift und
Schreibblock, um aufzuschreiben und notieren. Dieses mühsehlige Unterfangen
bildet für Will Navidson ein Abenteuer, dass er nicht überstehen wird.
Zunächst ist das Haus nur um wenige Zentimeter grösser und fällt gar nicht
auf. Will ist erstaunt, als ihm ein fremder Flur auffällt, der sich plötzlich
im Inneren des Hauses befindet und so macht, als sei er schon immer da gewesen.
Eines Tages findet Will hinter einer Tür einen dunklen Flur, aus dem ihm eine
unnatürliche Kälte entgegen kommt. Natürlich versucht Will den Korridor zu
erkunden. Bei der Erkundung des Flures findet er weitere Räumlichkeiten, die
dort gar nicht sein können. Dass sie es dennoch sind, treibt Will fast in den
Wahnsinn, festgehalten in seinem eigenen Report, der später seinen Namen tragen
wird. Mit der Verfolgung des Handlungsstrangs um ihn, geht eine Erkundung der
Räume einher. Gleichzeitig dient die Erkundung physischer Räume als abstrakter
Begriff für die Erkundung seelischen Raume mit Empfindungen wie Verzweiflung
und Einsamkeit und nicht zuletzt auch die Verlorenheit. Gerade letztere ist es,
die besonders hervortritt, je grösser die Räume werden, die Will in dem Haus
erforscht. Der Weg führt durch den Flur in einer dunkle Halle und schliesslich
zu einer endlos erscheinenden in unbekannte Tiefen führenden Wendeltreppe. Mit
seinem Bruder startet Will eine regelrechte Expedition in die unergründliche
Tiefe und... scheitern. Von aussen, eine endliche Grösse, berechenbar für
jeden Architekten, Statiker und Mathematiker. Von innen eine sich selbst
vervielfältigende Grösse für die der Begriff Unendlich erfunden zu sein
scheint. In der unbekannten Tiefe des Raumes, das ist jetzt keine Metapher, die
sich auf Science Fiction und die Tiefe des Weltalls bezieht, versteckt sich ein
unbekannter Schrecken. Der unerklärliche Schrecken, das Unheimliche an sich
verliert in der weiteren Beschreibung, nur um sich neu zu gestalten. Die Kunst
des Autors sei es nun Mark Danielewski oder Will Navidson scheint es zu sein,
einen Künstlerroman zu erschaffen, der sich am Künstler reibt und sich
dadurch selbst erschafft. Den eindringlichen Worten folgend wird aus einer
Loseblattsammlung eine gebundene Loseblattsammlung. Denn das Buch kann man zwar
als solches so nennen und erkennen, ist aber in Wirklichkeit nie so geplant
gewesen. Wenn der Leser dem Handlungsträger folgt, geschieht das meist nie zu
seinem, weder von Will Navidson noch dem Leser, Besten.
Das Buch ist schwierig zu lesen. Manch einer wird das Buch vielleicht als
unlesbar bezeichnen, andere wiederum halten das Buch selbst für eine Art Kunst,
rein zufällig mit beschrifteten Blättern versehen. In jedem Fall ist es aber
kein Buch, welches mal eben in ein paar Musestunden gelesen werden kann. Mit
Begriffen wie alptraumhaft und anstrengend ist zumindest der Beginn einer
Charakterisierung gegeben. Diese Beschreibung könnte jedoch damit beginnen,
dass Mark Danielewski mit seinen Hunderten von Fussnoten und Anmerkungen zu
Fussnoten den akademischen Betrieb geistreich verspottet. Im selben Moment wo er
diesen Hohn und Spott über die Bildungswelt ausschüttet, lässt er es zu, dass
über ihn und das Buch ebenfalls Hähme ausgeschüttet werden kann. Kann,
wohlgemerkt, nicht muss. Der Unterschied im Verständnis liegt in den
unterschiedlichen Lesegewohnheiten deutscher Buchbesitzer und Buchliebhaber. Der
Roman ist sehr vielschichtig wobei er durchaus bestimmte Vorstellungen aus dem
Bewusstsein vertreibt und vielfach zu Zwangshandlungen führt, etwa, eine Seite
wieder und wieder zu lesen.
Diese Begebenheiten erleben wir doch nur aus dritter Hand mit. Denn wir sehen
sie nur mit den Augen von Johnny Truant.
Fazit
Mark Danielewski verlangt seinen Lesern eine Menge Geduld und Konzentration ab.
Dafür überlässt er ihnen, den Lesern, ein dickes Buch, das von den wenigsten
Lesern ein zweites Mal in die Hand genommen wird. Ich denke, ich gehöre zu den
wenigen die das Buch dreimal in der Hand hielten. Einmal, um es durchzublättern
und gleich wieder weg zu legen, einmal, um es zu lesen und ein weiteres Mal um,
Verschwörungstheorien hin oder her, nach versteckten Hinweisen, übersehenen
Hinweisen und anderem mehr zu suchen. Das ist auch ein Grund, warum erst Monate
nach dem Erscheinen des Buches, dieser Bücherbrief erscheint. Der andere Grund
ist der, dass ich trotz mehrerer Versuche über die unterschiedlichsten Wege
kein Interview erhalten konnte. Mark Danielewski hat ein beeindruckendes Buch
geschrieben, von dem nur eines sicher ist, wie ich bereits andeutete, es gibt
kein zweites auf der Welt, dass ihm auch nur ähnelt.
Leider habe ich es versäumt, mich mit der Übersetzerin Christa Schuenke in
Verbindung zu setzen um mich über das Buch mit ihr ein wenig auszutauschen.
Wenn man monatelang dieses Buch übersetzt, hat man einen ganz anderen Zugang
dazu als normaler Leser, Phantastik-Fan oder gar Lohnschreiber von Feuilletons.
Zudem hat mir die Webseite phantastik-couch auf Anfrage verboten das Interview
mit Mark Danielewski nachzudrucken. Mark Danielewski trieb einen enormen
Aufwand, um sein Buch zu gestalten und als solches heraus zu geben. Es dürfte
nicht sehr einfach gewesen sein, in der Übersetzung den Aufwand
nachzuvollziehen, ihn als solchen nicht gelten zu lassen, sondern als Mittel der
Erzählung zu rechtfertigen. Im Gegenteil, mit all den Elementen und seinen
spielerischen Umgang könnte man meinen, das Buch sei nur eine Vorstufe zu einem
experimentellen Film, der dann doch wieder Will Navidsons Dokumentarfilm sein
könnte.
Die beiden hauptsächlichen Erzählstränge, festgemacht an Will und Johnny,
wirken wie eine Sucht. Man kann nicht von ihnen lassen, wenn man sich erst
einmal auf sie eingelassen hat, fordern aber eine Menge Konzentration und
Geduld. 797 Seiten mit 450 Fussnoten, quasi als wissenschaftliche Beglaubigung,
eine verschachtelte Handlung und ein Irrgarten von Textseiten, die aus diesem
Buch durchaus ein Drehbuch machen. Im wahrsten Sinn des Wortes.
Wir haben ein ganz besonders Buch. Da ist der Leser, der dem Autor Mark
Danielewski folgt, wie er dem Leser Johnny Truant Leben einhaucht, der wieder
dem Autor Zampanò folgt und der wiederum Will Navidson beobachtet. Wer
beobachtet wen, wer hat wen erfunden und ist Mark wirklich Wirklich? Kommen Sie
dem Geheimnis von DAS (Gespenster-) HAUS auf die Spur?!
Vorgeschlagen von erik schreiber
[Profil]
veröffentlicht am 11. Juli 2008 2008-07-11 17:42:14