Nell und Tig, ein alterndes Ehepaar, haben noch nicht gefrühstückt, doch
eifrig berichtet Tig seiner Frau zu dieser unpassenden Zeit die
Hiobsbotschaften des Tages. Margaret Atwood spricht das Altern des Paares nicht
direkt an. Nell und Tig brauchen über das Alter nicht mehr zu witzeln, sie sind
einfach alt. Das Zusammenleben der beiden als Paar klappt gerade noch so eben,
doch Vergesslichkeit und nachlassende Kräfte werden zunehmend zu
Missverständnissen führen. Margaret Atwoods ineinander verwobene Geschichten
um Nell und ihre Familie brauchen nur wenige knappe Sätze, um vordergründig
unspektakuläre Ereignisse in lange nachwirkenden Bildern zu vermitteln. In den
weiteren Geschichten folgen wir Nell in ihre Kindheit, als Nells Mutter 10 Jahre
nach Nells Geburt ihr drittes Kind erwartete. Das Leben mit der anstrengenden
kleinen Lizzie und einer geschwächten Mutter hat rein gar nichts mit der
Theorie im konventionellen Lehrbuch für die Hausfrau zu tun, das Nell
verschlingt. Die erwachsene, psychisch kranke Lizzie wird die Geduld ihrer
Familie ein Leben lang strapazieren. Als deprimierendste unter allen
deprimierenden Erinnerungen wird Nell die pott-hässliche grüne Tagesdecke
ihres Untermiet-Zimmers in Erinnerung bleiben. Später wird Nell sich in Tig
verlieben und sich in der Beziehung zu ihm, seiner Noch-Ehefrau Oona und den
beiden Kindern aus dieser Ehe aufreiben. Tigs Erstfamilie wird soviel Raum
einnehmen, dass Nell sich kaum vorstellen kann, wo eigentlich noch Platz für
ein gemeinsames Kind von Tig und ihr bleibt. In der Schilderung des Alltags auf
Tigs und Nells gemeinsamer Farm zeigt Atwood sich wie gewohnt als Erzählerin
von Format. Kaum jemand kann Freud und Leid des Lebens mit Gemüseschwemmen,
Pferden und mutterlosen Jungtieren so lapidar und bissig erzählen wie Margaret
Atwood. Wie in Atwoods älteren Natur-Ent-Idealisierungs-Geschichten bekommen
auch in diesem Buch die Besucher aus der Stadt von ihr den Spiegel vorgehalten.
Natur ist immer dann gut und beneidenswert, solange man selbst kein Holz hacken
muss und andere sich die Hände schmutzig machen. Atwoods Erzählungen scheinen
mit leichter Hand geschrieben, doch sie enthalten stets Widerhaken. Mit
"Moralische Unordnung" legt Margaret Atwood nach
"Katzenauge" ihr zweites Buch mit biografischen Bezügen vor. Sie habe
den Buchtitel von ihrem Mann Graeme Gibson übernommen, nachdem der sich
entschloss, nicht mehr zu schreiben, berichtet die Autorin.
Fazit
Ob es um Nells Mutter geht, die in relativ hohem Alter noch einmal schwanger
wird, um das Altern von Nells betagten Eltern oder die Schattenseiten in Nells
Beziehung zu Tig, Margaret Atwood beobachtet stets genau und entlarvt den
schönen Schein mit bissigen Seitenhieben.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 09. Juli 2008 2008-07-09 09:22:35