Joachim Vernau wusste, dass es sinnlos war, mit seiner Kollegin Marie-Luise
über den neuen Auftrag zu diskutieren. Sie waren auf das Geld angewiesen; denn
die Gemeinschaftskanzlei der beiden Berliner Anwälte konnte von ein paar
Nachbarschafts-Streitigkeiten unter Kleingärtnern nicht überleben. Marie-Luise
hatte für Joachim eine großzügig bezahlte Honorartätigkeit als Betreuer des
Teen-Court-Projekts an einem Pankower Privat-Gymnasium an Land gezogen. Teen
Courts (die Idee dazu stammt aus den USA) sind normalerweise Gremien aus
Jugendlichen, die über Gleichaltrige Strafmaßnahmen verhängen. Im Fall des
Herbert-Breitenbach-Gymnasiums handelt es sich um eine Rechts-AG, in der
Schüler über Anschuldigungen diskutieren, die anonym gegen Mitschüler
eingegangen sind und anschließend Sanktionen beschließen. Über den
Unterrichtsstoff der AG in der 7. Unterrichtsstunde und über Vernaus Befugnisse
als Honrorarkraft hält sich die stellvertretende Direktorin der Schule
merkwürdig bedeckt.
Der junge Anwalt, der zu seinen 12-Klässlern einen guten Draht hat, kommt
schnell dahinter, dass die Schul-Leitung Gespräche über den Tod einer
Schülerin unterbindet, der seine Schüler noch immer beschäftigt. Zwei
Schüler der Rechts-AG melden sich verstört gleich wieder aus der AG ab,
nachdem sie bedrohliche SMS erhalten haben. Einige gut situierte Eltern sind
über den Umgang der Schule mit dem Todesfall reichlich ungehalten. Vernau sieht
sich mit dem Anspruch der Direktion konfrontiert, umgehend das Ansehen der
Schule in der Öffentlichkeit wiederherzustellen. Jeder Schüler, der die Schule
verlässt, bedeutet einen Bilanz-Verlust für das Gymnasium als
Wirtschaftsbetrieb und eine Verringerung des verfügbaren Kapitals, da die
meisten Eltern zugleich auch Anteilseigner an der Schule sind.
Ein Teil der Zwölftklässler begeistert sich in der Freizeit für
Live-Rollenspiele, ein Hobby, das die Schule mit allen Mitteln zu unterdrücken
versucht. LARP (Live Action Role Playing) ist für Vernau zunächst eine fremde
Welt. Doch der Jurastudent Kevin, der gerade ein Praktikum in der Kanzlei
absolviert, kennt sich bestens aus und führt Vernau in die nächtlichen
Vergnügungen der Berliner Rollenspiel-Szene ein. Als es beim Schulfest zu einem
Giftanschlag auf eine Schülerin seiner Teen-Court-AG kommt, beschließt Vernau,
der mysteriösen Angelegenheit mit den Mitteln des Rollenspiels auf den Grund zu
gehen. Der schrottreife Dienst-Volvo der Kanzlei macht Vernaus Ermittlungen zu
einem Hindernisrennen durch das herbstliche Berlin, das auch noch durch
überraschende Eskapaden seiner betagter Mutter unterbrochen wird. Vernau ahnt
nicht, welch gefährlichem Gegner er auf der Spur ist.
Fazit
"Die 7. Stunde", Elisabeth Herrmanns zweiter Kriminalroman um das
Ermittler-Team Marie-Luise und Joachim, fesselt bis zur letzten Seite. Ein Atem
beraubendes Buch, das man am besten in einer Nacht zu Ende liest. Die Autorin
hat für ihren ungewöhnlichen Plot voller pittoresker Haupt- und Nebenfiguren
direkt in der LARP-Szene recherchiert. Begeistert haben mich die sorgfältig
gezeichneten Nebenfiguren von Hüthchen bis zur findigen Freundin Kevins. Wie
sie zu ihren Rollenspiel-Kenntnissen gelangte, beschreibt Herrmann in allen
Einzelheiten im Anhang. Die Autorin zeigt mit Verständnis für die Jugendlichen
und leisem Spott gegenüber dem Quereinsteiger Vernau überaus kritisch die
Auswüchse einer Gesellschaft, die Bildung als Ware und Statussymbol betrachtet.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 14. Juni 2008 2008-06-14 18:47:55