Niemand anders als Johann Gottlieb Fichte mit seinen Reden an die deutsche
Nation von 1808 hat ein intellektuell hochwertiges Werk beispielhaft im Kampf
gegen die Herrschaft feindlicher Bajonette in Preußen hinterlassen. Er richtet
im Kampf um die Grundrechte einer jeden Kultur, um die Freiheit der Gedanken und
das Grundrecht der Nation auf politisch-kulturelle Selbstbestimmung folgendes an
seine Zuhörer: "Wir sollen unsern Geist nicht unterwerfen: so müssen wir
eben vor allen Dingen einen Geist uns anschaffen, (...), wir müssen in beiden
der Natur und der Wahrheit gemäß werden, (...)." (Fichte, Johann Gottlieb
von 1869: Reden an die deutsche Nation, S. 120) Er drückt damit den Anspruch
auf Selbstrechtfertigung in Freiheit und auf die politische Realität eines
eigenen Geistes aus, der sich der göttlichen Ordnung bewußt ist und ohne
Hemmnisse der Wahrheit zustrebt. Er werde durch Erziehung und Gemeinschaft von
Generation zu Generation als transzendentes Erbe weiter getragen.
Wir können also mit Fichte den Einzelnen als wesentlich definiert durch seine
Gemeinschaft verstehen - der reflexiven Individualismus, der eine dialogische
und interpersonal-relationale anstatt eine monologisch-selbstbezügliche
Perspektive aufweist erscheint hier als charakteristische deutsche
Staatsphilosophie. Die deutsche Subjektreflexivität ist nicht subjektivistisch,
weil sie reflexiver "Sebstbezug-im-Fremdbezug" (Johannes Heinrichs)
ist. Der Einzelne ist jemand, der sich mit den Anderen definiert. Fichtes
"Reden an die deutsche Nation" zeigen nicht nur, wie Fichte sein
politisches Denken von einer rechtlich-individualistischen auf eine nationale
Grundlage umstellt, sondern sie lassen gerade in ihrer Vielschichtigkeit, in
ihren inneren Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten zugleich wesentliche
Strukturmerkmale nationalen Denkens erkennen.
Die vorliegende bei Herfried Münkler in Berlin entstandene Dissertation
erforscht Fichtes vom Dezember 1807 bis März 1808 sonntags im Rundsaal der
Preußischen Akademie der Wissenschaft zu Berlin gehaltene Reden. Es geht ihm
dabei nicht um den primitiven Vorwurf blinder "Deutschtümelei".
Derlei vorwürfe sind naives Relikt einer im Denken gehemmten deutschen
Nachkriegszeit. Und in der Tat geht es um mehr, nämlich um eine Synthese
humanitärer, kosmopolitischer, sprachlicher, sittlicher und nationaler Ideen
(167ff.). Sprache und Sitten als Kern einer demokratischen Kulturgemeinschaft,
die nur als solche einem Europa kulturelle Pluralität zu verleihen in der Lage
ist, stehen in der Tradition Herders und Fichtes. Fichte betont die kulturelle
Bildung der Nation als Vorstufe zur rein menschlichen Bildung. Er synthetisiert
Weltbürgertum und Patriotismus mit dem Ziel der Organisation menschlicher
Gesellschaft nach dem Bilde der Vernunft und der Maxime staatspolitischer
Unabhängigkeit. Damit spricht er sich für einen bürgerlichen Patriotismus von
Menschen gleicher Sprache und Kultur als mikrokosmischer Prämisse für einen
menschheitlichen Makrokosmos aus, ohne die Souveränität der Völker zu
leugnen, wie es dem amerikanischen Kosmopolitismus oft vorgeworfen wird.
(Übrigens zu recht)
Seit Frankreichs Sieg über Preußen 1806 kann Fichte als der "eigentliche
Philosoph der Napoleon-Feindschaft" (C. Schmitt) gelten. Die in den Reden
entwickelte Sprachtheorie betont den Zusammenhang von Denken und Sprache, von
nationaler Identität und sprachlich-kulturellem Kontext (125). Fichte fordert
eine "Deutschwerdung" im Zuge einer Nationalerziehung, die für Knaben
wie Mädchen in Form von Internaten pflichtig gemacht werden solle. Dabei
versteht er die deutsche Nation als geöffnet alle, die an Geistigkeit und
Freiheit glauben (160), und zielt mit seinem Erziehungsprogramm auf eine
Gesellschaftsordnung, wie sie das Vernunftgesetz vorschreibt. Dies allein dient
der Gemeinwohldefinierung aus kulturellem Hintergrund, die auch nicht über zu
einer parteipolitischer Willkür gegenüber politischen Außenseitern neigenden
abstrakten ‚Werteordnung’ des nachkriegsdemokratischen Verhaltens
"gegen links" oder "rechts" zu erlangen ist. - Alles purer
Unsinn! - Fichte selbst hat die deutsche Staatsphilosophie schon 1793 in seinen
von Bernard Willms herausgegebenen Revolutionsschriften mit einem höherwertigen
Maßstab versorgt, wenn er meint, daß wahrhaft moralisch nur aus absoluter
innerer Freiheit und ohne monologische Appelle, die privilegierte aber nicht
dialogisch-reflexive Grundwahrheiten vorgeben, gehandelt werden könne. Eine
Staatsverfassung sei nicht vernünftig, wenn sie die Möglichkeit der
Entwicklung hin zur Freiheit über latenten - zumal parteipolitischen -
Gesinnungsterror abwehrt.
Wir können diese Grundhaltung in den "Reden" als vollends ausgereift
erkennen. Die vorliegende Studie schert aus dem Bisherigen dadurch aus, daß
nicht nur Fichtes Denken entfaltet, sondern auch die tiefer greifenden
Bedeutungen des Werkes erkannt werden, die zu erkennen wohl Parteipolitiker
jeglicher Couleur, die sich Fichte entweder aneigneten (NSDAP) oder ihn
strategisch mißdeuteten (Parteien der Nachkriegszeit), ohne Frage nicht in der
Lage sind.
Hatte Fichte in seinem im Winter 1804/05 gehaltenen Vorlesungszyklus
"Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters" die Gegenwart noch über
das erwachende Freiheitsbewußtsein definiert, proklamiert er in den
"Reden" eine Zeitenwende, in der auf die Zerstörung des "Reichs
der Selbstsucht" durch fremde Gewalt die neue Welt der nationalen Einheit
folge. Der Reichsgedanke bei Fichte bietet die politische Form für die deutsche
Nation dar, wobei er eine föderative Struktur präferiert.
Fazit
Diese Studie gibt zu denken. Sie gibt ein Beispiel für die überfällige
Neureflexion des deutschen Nationalgedankens ab - auf Basis desjenigen
Philosophen, der hier absolut anknüpfungsfähig ist.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 07. Juni 2008 2008-06-07 11:14:56