Bücher, die zur Lebenshilfe geschrieben werden, gibt es wie Sand am Meer.
Darunter finden sich neben vielen, deren Lektüre sich kaum lohnt, einige, die
durchaus gut und brauchbar, aber nicht besonders nachhaltig sind in ihrer
Wirkung auf den Leser, und schließlich ganz wenige Perlen, die man als
Kostbarkeiten aufbewahrt und immer wieder zur Hand nimmt. Dazu gehört für mich
Mitch Alboms Erfahrungsbericht "Dienstags bei Morrie" mit dem
vielversprechenden Untertitel "Die Lehre eines Lebens". Wie kann man
die Lehre eines Lebens auf 218 Seiten unterbringen?, fragte ich mich skeptisch,
als ich vor kurzem dieses Taschenbuch am Beginn einer langen Bahnreise aufschlug
und zu lesen begann.
Man kann! Das wirklich Wesentliche im Leben ist immer nur kurz und mit einfachen
Worten sagbar. Um es vorwegzunehmen: Das Buch hat mich nicht mehr losgelassen,
ich habe es bis zum Ende der sechsstündigen Fahrt vom ersten bis zum letzten
Wort in mich aufgesogen, und ich habe mir zahlreiche Stellen angestrichen, die
ich unbedingt schnell wiederfinden möchte, und Notizen an den Seitenrand
geschrieben, wo es mich dazu drängte.
Der Verfasser, Mitch Albom, geboren 1958, lebt in den USA und gilt dort als der
berühmteste Sportkolumnist. Außerdem ist er Radiomoderator und
Fernsehjournalist. Die Geschichte, die er erzählt, hat sich im realen Leben
genau so ereignet. Insofern handelt es sich weniger um Belletristik (Albom
erhebt auch gar nicht den Anspruch, Literatur geschrieben zu haben) als um einen
Tatsachenbericht. Dennoch braucht die sprachliche Qualität des Buches den
Vergleich mit manchen literarischen Veröffentlichungen nicht zu scheuen. Sie
ist durchgängig einheitlich und stimmig, in Wortwahl und Stil dem Inhalt
angemessen, einfach und doch nicht vereinfachend, flüssig zu lesen. Die häufig
eingeflochtene direkte Rede gibt dem Text zusätzlich Lebendigkeit und
vermittelt Authentizität. Auf der Einbandrückseite wird das "Hamburger
Abendblatt" mit den Worten zitiert: "Selten gibt es Bücher, die in so
bestechender Klarheit und ungekünstelter Schlichtheit wiedergeben, worum es
wirklich im Leben geht."
Das große Thema ist: Wie leben? Wie sterben? Aber da ist keine theoretische
Abhandlung mit vielen weisen Ratschlägen aufgeschrieben worden, sondern die
Quintessenz eines langen und erfüllten Lebens, das bis zum letzten Atemzug
würdevoll gelebt wird.
Zufällig erfährt Mitch Albom über das Fernsehen, daß sein verehrter und
geliebter ehemaliger Professor Morrie Schwartz an einer tödlichen Krankheit im
Endstadium leidet. Dieser war sein Lieblingslehrer gewesen, ein Mann, den er
wegen seiner Menschlichkeit in besonderem Maße geschätzt hat. Albom sucht ihn
nach sechzehn Jahren zu Hause auf, um ihm Trost und Beistand zu spenden. Er
kommt als Gebender und wird sehr schnell zum Nehmenden, der mit einer neuen
Sicht auf das Leben beschenkt wird. Höchst überrascht stellt er fest, daß der
alte Humor und die Lust an tiefgründigen Gesprächen den vom Tode Gezeichneten
nicht verlassen haben. Dessen Mut und Lebensfreude scheinen unverwüstlich. Die
beiden Männer, die verschiedenen Generationen angehören, eint eine
Freundschaft, die auf gegenseitiger Achtung und Wertschätzung beruht. Mitch
bewundert Morrie wie früher ob dessen Einstellung zum Leben, und er ist immer
wieder aufs neue erstaunt darüber, wie der alte Professor sie sich auch
angesichts des nahen Todes noch bewahrt hat.
Dem ersten Besuch folgen weitere, es kommt zu regelmäßigen Zusammenkünften.
Vierzehn Wochen lang treffen sie sich jeden Dienstag bei Morrie. Ihre Gespräche
drehen sich um die großen Welt- und Menschheitsprobleme und ganz persönliche
Fragen, um das Leben und Sterben in unserer Gesellschaft, um unsere Kultur und
unseren Umgang mit Geld. Sie sprechen über Gefühle, über das Leben und die
Liebe, über Ehe und Familie, über Schuld und Vergebung, über Glück und
Abschiednehmen und andere Themen mehr. Dabei übernimmt Morrie nicht die Rolle
des Dozierenden, sondern des Freundes, des kameradschaftlichen
"Coachs", des Mitmenschen, der ebenso wie wir alle in vielen Dingen
keine endgültigen Antworten hat. Diese Natürlichkeit und Offenheit, die
Aufrichtigkeit und Echtheit seines Redens und Verhaltens, die von dem
Schwerkranken und Todgeweihten ausgehen, und vor allem die allgemeinen und
grundlegenden ethischen Werte, von denen Morrie nicht nur redet, sondern die er
spürbar lebt, beeindrucken Mitch tief. Diese Gespräche verändern sein Leben.
Morrie macht einen erschreckenden physischen Verfallsprozeß durch, aber
"während sein Körper zerfiel, leuchtete sein Charakter umso heller"
(S. 185).
Das Buch umfaßt 28 Kapitel, 14 davon sind den einzelnen Dienstagen zugeordnet.
Zwischen mehrere Kapitel wurden - inhaltlich gut passende - kurze Texte aus
alten Überlieferungen sowie Erinnerungen Mitchs an seine College-Zeit
eingefügt. Diese Rückblenden zeigen einen Hochschullehrer, der ein ganz
besonderer Mensch ist. "Morrie glaubte an das Gute in allen Menschen"
(S. 175), und Mitch fragt den Leser: "Haben Sie jemals einen richtigen
Lehrer gehabt? [...] Wenn Sie das Glück hatten, einmal einen solchen Lehrer
gefunden zu haben, dann werden sie auch immer wieder den Weg zu ihm finden"
(S. 217f.).
Das übergreifende Element, das die einzelnen Kapitel miteinander verbindet, ist
als Strukturprinzip die Analogie zu einem Hochschulkursus, dem letzten im Leben
des Professors, in welchem er seinem einzigen Studenten die Lebenserfahrungen
und -weisheiten weiterzugeben beabsichtigt, die mit seinem Tode nicht
verlorengehen sollen. Es ist Morries erklärte Absicht, "den Tod zu seinem
letzten Projekt zu machen" (S. 21).
"Es gab keine Zeugnisse", sagt Mitch, "aber jede Woche fanden
mündliche Prüfungen statt. Es wurde erwartet, daß man auf Fragen antwortete,
und ebenso, daß man selbst Fragen stellte. [...] Statt der Abschlußfeier fand
eine Beerdigung statt. Zwar gab es keine Abschlußprüfung, aber es wurde
erwartet, daß man über das, was man gelernt hatte, ein langes Referat schrieb.
Das Referat ist dieses Buch" (S. 11f.).
Fazit
Dieses Buch hat mich beeindruckt wie nur sehr wenige andere, es hat mein
Weltbild bestätigt und erweitert, in vielen Punkten meine Ansichten bestärkt
und ergänzt, an manchen Stellen hat es verborgene Saiten in mir zum Klingen
gebracht, an anderen wieder hat es mich zu Tränen gerührt. Es hat mir den Kopf
und das Herz angesprochen, und es wird, da bin ich sicher, ein Stück wohl auch
mein eigenes Leben und Sterben beeinflussen. Ich weiß, daß ich es noch oft
lesen und daraus zitieren werde.
Jedem nachdenklichen Menschen gleich welchen Alters, der sich die Frage nach
einem sinnerfüllten Leben stellt, möchte ich Mitch Alboms Buch ans Herz legen.
Es sollte eigentlich an den Schulen zur Pflichtlektüre gemacht werden. Wenn
viele Menschen es läsen und sich davon beeindrucken, inspirieren und verändern
ließen, sähe unsere Welt ganz gewiß etwas freundlicher aus.
Vorgeschlagen von Eberhard E. Küttner
[Profil]
veröffentlicht am 18. November 2003 2003-11-18 18:34:39