"Du hast kein Abitur, keine Ausbildung, keine Erfahrung, keinen
Führerschein, keine besonderen Fähigkeiten, keinen Mann, kein Zuhause da
draußen, keine Verwandten, keine Freunde, keine Wurzeln, kein soziales
Sicherheitsnetz und keine Ahnung davon, wie schwer es ist, im Dschungel der
Zivilisation zu überleben" hatte Iris Vater ihr kurz vor seinem Tod
entgegen geschleudert. Iris Meander war in Amsterdam in leicht
unübersichtlichen Verhältnissen aufgewachsen. Die Familie ihrer Mutter stammte
aus Indonesien und verstieß Iris Mutter, als sie eine Beziehung zu einem
Deutschen begann. "Der Mof", der verhasste Deutsche, war zwar kein
Teilnehmer des zweiten Weltkriegs, aber das tat der erbitterten Ablehnung seiner
Schwiegereltern keinen Abbruch. Die Niederlande hatten auf einen deutschen
Holzbildhauer nicht gerade gewartet und so zieht Iris Familie zur befreundeten
Familie Koivisto nach Finnland, um dort gut bezahlte Hausmeister- und
Babysitter-Aufgaben zu übernehmen.
Iris fasst in ihrer deutschen Schule in Finnland nur schwer Fuß. Angeregt durch
eine üppig mit Titeln in fünf europäischen Sprachen ausgestattete Bibliothek
in Koivistos auf einer kleinen Insel gelegenen Sommerhaus gibt sie sich lieber
ihren Träumen von einem Leben ohne Arbeit hin. Mit 17 Jahren findet Iris
unerwartet ihren Traumjob: sie soll das fünfsprachige Bücher-Chaos bei
Koivistos ordnen und katalogisieren. Dabei kann sie soviel lesen wie sie
möchte. Doch wie gesagt: sie hat keinen Schulabschluss, keine formale
Ausbildung - was soll aus ihr werden, wenn das letzte Buch geordnet ist?
Ausgerechnet Iris, die ein Niederländisch wie vor hundert Jahren spricht und
den Eindruck erweckt, sie sei von einem anderen Planeten in eine ihr fremde Welt
gebeamt worden, beschließt nach Berlin zu gehen. Von der abgelegenen Insel
gerät Iris in die Stadt in Insellage und findet dort einen Job mit Inselstatus.
Als Mädchen für alles arbeitet sie gegen Unterkunft und Taschengeld. Wer im
selben Haus wohnt und arbeitet, braucht seine begrenzte vertraute Umgebung nur
selten zu verlassen. Die finnische Tugend, mit monatelangem Alleinsein zurecht
zu kommen, wissen Iris Berliner Kollegen nicht so recht zu schätzen und
diagnostizieren bei ihr eine psychische Störung.
Ein skurriler Nebenjob als Texterin von Horoskopen und Leserbrief-Antworten in
einer Frauenzeitschrift konfrontiert Iris mit dem Bagwan-Wahn und weiteren
Modeerscheinungen der 70er Jahre. Schließlich wird Iris aus reiner
Gutmütigkeit unfreiwillig zum Opfer des Talkshow-Zirkus, der eigene
Wirklichkeiten schafft und neue Identitäten kreiert. Als sie und die Leser kaum
mehr daran glauben mögen, kann Iris in einem skurrilen und zugleich rührenden
Finale den Bogen zu ihrer Kindheit in Amsterdam schließen.
Fazit
Schon lange habe ich mich nicht mehr so amüsiert wie mit der
"Eigensinnigen". Martina Kempff hat mit Iris eine vielsprachige
Weltbürgerin geschaffen, die als Außenseiterin eine feine Beobachtungsgabe
für die jeweiligen nationalen Eigenheiten zeigt. Auf das Deutschland der 70er
lässt Kempff ihre polyglotte Heldin mit leiser Ironie schauen. Auftritt und
Abgang einiger Figuren wirken leicht grotesk, liegen aber noch im Bereich des
Glaubwürdigen. Iris innige Beziehung zum "schwierigen Kind" Nikki
zeigt, wie ambivalent ihr Nichtstun tatsächlich ist: Iris findet durch ihr
"nichts tun" Zugang zu Nikki. Eine in ironischem, leichten Ton
erzählte Geschichte, die bis letzten Seite fesselt.
Die gebundene Ausgabe erschien unter dem Titel "Die Frau die nichts
tut".
Ähnlichkeiten zwischen der bewegten Lebensgeschichte
Martina
Kempffs
und Iris europäischer Odyssee sind rein zufällig.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 14. Mai 2008 2008-05-14 21:07:59