Nomi Nickel hat exakt zwei Möglichkeiten zur Auswahl - sie kann in der
Hühnerschlachterei arbeiten oder sich in Tracht und Häubchen von
aufdringlichen Touristen fotografieren lassen. Die Familie der 17-Jährigen
gehört einer kanadischen Mennoniten-Gemeinde an, einer der peinlichsten
Religionsgemeinschaften, zu der man als Jugendlicher laut Nomi gehören kann.
Mennos nennt Nomi sie - und das hört sich an wie eine Behinderung. Dass der
kleine Ort keinen Bahnhof hat, soll Jugendliche davon abhalten, in die nächste
größere Stadt abzuhauen, vermutet Nomi. Die Religionsgemeinschaft, deren
Mitglieder einst aus Deutschland nach Kanada auswanderten, um dort ihre Religion
leben zu können, gibt strenge Regeln vor und löst Konflikte mit ihren
Gemeindemitgliedern durch Ausschließen unangepasster Personen.
Seit Nomis Mutter Trudi und ihre drei Jahre ältere Schwester Tash die Familie
verlassen haben, lebt Nomi zurückgezogen mit ihrem Vater. Dass Trudie und Tash
die Gemeinschaft verlassen mussten, weil sie den strengen Anforderungen nicht
genügten, liegt nahe. Doch warum hat Trudi ihren Pass nicht mitgenommen?,
sorgt Nomi sich schon seit dem Verschwinden ihrer Mutter. Nomi empfindet die
allgegenwärtige Kontrolle als besonders entwürdigend; denn "die
Stimme", der Prediger der eingeschworenen Gemeinschaft, ist ihr Onkel. Wenn
außerdem noch alle Gleichaltrigen die eigenen Cousins und Cousinen sind, kann
einen nur der Traum vom Leben in New York aus dem täglichen Einerlei
herausreißen.
In Nomis Erinnerungen entfaltet sich zunächst das Leben ihrer Mutter Trudi, die
nach Ansicht anderer weder als Hausfrau, als Gemeindemitglied noch als
Missionarin talentiert genug war. Dass auch Tash mit den Autoritäten aneinander
geraten ist, wundert nicht; denn die damals 16-Jährige experimentierte wie alle
Jugendlichen mit Worten, mit ihrem Musikgeschmack und mit Jungen.
Fazit
Miriam Toews lässt Nomi von den strengen Normen ihrer Religionsgemeinschaft in
einem hinreißend schnoddrigen Ton berichten, den die Übersetzung treffend
wiedergibt. Nomi bewegt sich in ihren Urteilen geschickt auf dem schmalen Grat
zwischen Auflehnung und Duldsamkeit. Die 17-Jährige kritisiert ohne zu
lamentieren; ihre phantasievollen Erinnerungen fügen sich zu einem liebevoll
gezeichneten Bild ihrer Familie.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 11. Mai 2008 2008-05-11 09:07:03