Der drittgrösste Bösewicht der Welt ist Acheron Hades (wer sind Nr. 1 und 2
und wer entscheidet die Reihenfolge?), dessen Name allerdings nur hinter
vorgehaltener Hand und sehr leise ausgesprochen werden sollte. Oder besser noch,
gar nicht erst erwähnen. Er ist ein Genie darin, sich immer wieder neue
Schurkereien einfallen zu lassen und dabei geht er sprichwörtlich über
Leichen, die seinen Weg pflastern. Der Mann scheint hinter dem grandiosen Raub
zu stehen, der das Originalmanuskript von Charles Dicklens, Martin Chuzzlewitt,
entwendete. Alle Spuren, die gefunden wurden, deuten auf den scheinbar
unsterblichen Hades. Natürlich macht man sich an die Arbeit, das gestohlene Gut
wieder zu beschaffen. Die Lage der Nation ist kritisch, der Druck auf die
Ermittler ist hoch, man erwartet eine schnelle Lösung. Dafür zuständig ist
eine Special Operations Network. Denn den Menschen dieser Zeit und dieser Welt
ist Literatur sehr wichtig. Die Betonung auf Zeit und Welt ist wichtig, wenn man
daran denkt, dass die Engländer unter anderem auf der Krim gegen die
zaristischen Russen einen über hundert Jahre währenden Krieg führen. In
diesem Krieg fiel Thursday Next’ Bruder. Und der britische Grosskonzern
Goliath (welch treffender Name) kocht da noch sein eigenes Süppchen. Aber dies
scheint erst einmal nur so nebenbei erwähnt zu werden. Aber bald wird man
feststellen, dass solche Nebensätze später wichtig werden. Es besteht eine
Volksrepublik Wales, die ihre Unabhängigkeit erklärte und der Luftverkehr
findet in der Regel mit Luftschiffen des Herrn Zeppelin statt. Zeitreisen kann
man durchführen, Vampire und Werwölfe kennenlernen und anderes mehr. Daher
wird schnell klar, dass wir uns mit diesem Buch in einer parallelen Welt
befinden.
Normalerweise sind die LiteraturAgenten (welch nettes Wortspiel) der Special
Operations 27 für die Aufklärung des Verbrechens zuständig. Die SO 27 soll
eigentlich dafür sorgen, dass Literatur nicht gefälscht wird. In diesem Fall
übernimmt jedoch die Abteilung Special Operations 9, die Terrorbekämpfung, die
Aufklärung. Allerdings benötigen sie die Hilfe der Literaturagentin Thursday
Next. Thursday Next ist eine ungewöhnliche Frau. Selbstbewusst, furchtlos und
humorvoll. Sie ist eine Frau, wie sie jeder Mann gern kennenlernen würde.
Thursday ist in der Lage, Hades zu erkennen, denn sie kennt ihn noch als ihren
früheren Universitätsprofessor. Ausserdem entführte er ihren Onkel. Ihr Onkel
erfand eine Maschine, mit der man in Bücher einsteigen kann und daher auch in
der Lage ist, die Geschichte neu zu schreiben, zu verändern. Der Auftrag zur
Festsetzung Acheron Hades geht allerdings schief. Hades kann entkommen, nicht
ohne ihr eine schwere Verletzung in Form einer Schusswunde beizufügen. Kurz
darauf wird ein Toter aufgefunden, der von seiner Kleidung her, aus dem Buch von
Charles Dickens hätte entsprungen sein können. Aber die Entführungen gehen
weiter. Plötzlich fehlt das Manuskript von Jane Eyre der Autorin Charlotte
Bronté und die Hauptfigur wird als Geisel zu genommen. Dabei ändert Thurs, wie
sie abgekürzt genannt wird, leichtfertig das Buch und so bekommt Jane Eyre
plötzlich ein Happy End. Thurs geht mit aller ihr zur Verfügung stehenden
Härte gegen ihren Gegner vor. Mutig und listenreich gelingt es ihr, das
Abenteuer erfolgreich abzuschliessen. Nur um gleich darauf in das nächste
Abenteuer zu schlittern. Die frisch verheiratete Thursday Next und werdende
Mutter findet ein verschollenes Original des begnadeten Dichters William
Shakespeare. Während die junge Ehefrau sich damit beschäftigt, sich in
Jurisfiktion weiter zu bilden, wird sie zum erklärten Ziel verschiedenster
Interessengruppen. Die Jurisfiktion operiert von der Grossen Bibliothek aus. Ihr
Ziel ist es, ebenfalls zu verhindern, dass die Literatur Änderungen unterworfen
wird. Die Grosse Bibliothek enthält von allen jemals erschienenen Büchern ein
Exemplar und die Mitarbeiter rekrutieren sich aus den Handlungsträgern der
Bücher, die dadurch ein eigenes Interesse daran besitzen, nicht aus einem Buch
"herausgeschrieben" zu werden. Thursdays eigener Arbeitgeber vertraut
ihr nicht mehr, der Konzern Goliath, der überall im Land seine eigenen
Interessen vertritt ist hinter ihr her und zu guter Letzt werden Mordanschläge
auf sie verübt. Das schlimmste ist jedoch, dass ihr Ehemann genichtet wird.
Landen Park-Lane ist Schriftsteller und als solcher erfolgreich. Das heisst,
mittels einer Zeitreise wird ihr Ehegatte bereits als Kleinkind aus dem Leben
genommen, indem man es ertrinken lässt. Seither ist Thursday Next die einzige,
die noch eine Erinnerung an Landen Park-Lane besitzt. Der Grund dafür liegt
darin begründet, dass die Goliath Corporation Thursday erpressen will, den in
Edgar Allen Poes Buch DER RABE im Gefängnis einsitzenden Jack Schitt zu
befreien. Sie lässt sich nicht darauf ein. Neben der Hatz auf die
Literaturagentin, unter anderem durch die Chronogarde, droht ihr auch noch ein
Gerichtsverfahren, dass in einem Roman von Franz Kafka spielt.
Der Aufenthaltsort der noch nicht geschriebenen Romane ist der Brunnen der
Manuscripte. Der Brunnen besitzt sechsundzwanzig Stockwerke. Der Brunnen ist der
Ort, an dem jedes unveröffentlichte Werk zu finden ist. Von kommenden
Bestsellern bis hin zu dilettantischen Schmierereien, die hier auch entsorgt
werden können. Für die Entsorgung ist der Gattungsrat zuständig, der
letztlich entscheidet, ob oder ob nicht, das Werk ganz der Vergessenheit anheim
fällt. Dort liegen die Vorlagen und die Autoren sind der irrigen Meinung, sie
würden die Texte schreiben. Statt dessen sind dort Plotschmiede und
Stimmungsmacher dabei, eine Handlung zu erfinden. Lochflicker, Echofinder und
Orthografieprüfer sorgen sich um die Lesbarkeit des Werkes, Handlungsträger
und Romanfiguren finden sich ein, dem Werk Leben einzuhauchen. Aber es gibt auch
negative Figuren und Parasiten, die sich dort zu schaffen machen. Am Ende
gelingt es unserer Heldin die Welt zu retten und den Attentätern durch ein
Figurenaustauschprogramm zu entkommen. Sie flieht in einen Kriminalroman um dort
darauf zu warten, dass er veröffentlicht wird. Die Zeit will sie nutzen, um in
einem zum Hausboot umfunktionierten Flugboot zu wohnen und Ruhe in die
Schwangerschaft zu bringen. Mit ihrem Studium der Jurisfiktion will sie sich
weiterbilden. Und mit Hilfe der Jurisfiktion-Agentin Havisham bereitet sie sich
auf die grosse Dienstprüfung vor. Dabei lernt Thursday Next die für sie
überraschenden Vorgänge kennen, die zur Entstehung von Literatur führen. Da
wird auch klar, warum es wichtig sein könnte, auf Godot zu warten. In diesem
eher langweiligen Krimi, in der Persönlichkeit einer unbedeutenden Figur,
scheint sie die nötige Ruhe zu finden. Trotz der Unterstützung ihrer
Grossmutter gerät sie in die Situation, von den anderen vergessen zu werden.
Doch das Leben im Brunnen ist nicht ungefährlich. Thurs trifft auf eine wilde
Gruppe von Grammasiten. Sie trifft auf Martin, der nichts anderes vorzuhaben
scheint, als sich mit ihr sexuell zu vergnügen und eine Sitzung der
Therapiegruppe zur Verminderung der Wut in wuthering Heights gerät zum
Desaster.
Thursday Next trifft hier auf Aornis Hades, die Schwester des verstorbenen
Acheron Hades, den wir bereits kennen lernten. Aornis hat sich in ihren Kopf
gesetzt, den Tod ihres Bruders zu rächen, was zu einer abenteuerlichen Handlung
führt. Ein Mittel ist die durchgeführte Gedächtnismanipulation bei Thurs.
Thurs wird immer mehr in die Situation getrieben, vergessen zu werden. Aber
unsere Heldin wäre nicht Heldin, wenn sie sich dadurch beeinträchtigen liesse.
Letztlich muss sie die Welt wieder einmal retten. Währenddessen zettelt Aornis
mit einem neuen System, genannt UltraWordTM, eine Verschwörung an. Hinter
allem steckt jedoch ein Konzern namens TextGrandCentral. Ähnlich ebooks soll es
nur noch möglich sein, mit diesem System Bücher zu lesen. Der Konzern hofft,
damit ein Weg zu finden, die Aussenwelt zu kontrollieren. Und nicht zuletzt will
der Konzern damit der Belletristik zum Sieg über Sach- und Fachbücher
verhelfen. IM BRUNNEN DER MANUSCRIPTE erzählt nicht nur die Abenteuer in der
Buchwelt. Gleichzeitig ist diese Erzählung die kritischste zum Thema
Technologie, deren Gefahren und deren Unwägbarkeiten.
Kaum ist Thursday Next mit ihrem inzwischen zweijährigen Sohn Friday zurück in
der richtigen Welt des Jahres 1988 und ihrer Heimatstadt Swindon, stellen sich
ihr erneut Probleme in den Weg. Der Emporkömmling und Staatskanzler Yorrick
Kane will sich zum uneingeschränkten Herrscher über England ernennen. Seine
diktatorischen Anwandlungen will er mit einer Gehirnwäschemaschine der Goliath
Corporation durchführen. Yorrick ist eine Figur aus einer Zeitung, hat sehr
viele Vorbehalte gegen die Dänen und ist gegen sie äusserst rassistisch
eingestellt. Dem zukünftigen Diktator steht Thursday entgegen, die die Hilfe
des Dänenkönigs Hamlet in Anspruch nimmt. Aber das ist nicht ihr einziges
Problem. Denn sie hat es immer noch nicht geschafft, ihren genichteten Ehemann
Landen Park-Lane zum Leben zu erwecken.
Um alles auf die Reihe zu bekommen und letztlich wieder die Welt zu retten, muss
nur eines geschehen. Der Krokett-Club von Swindon muss den SuperHoop gewinnen.
So lautet zumindest die siebente Weissagung des mittelalterlichen Propheten St.
Zvlxk. Da der kleine Verein keine Chance zu einem Sieg sieht, wird Thursday Next
zur Team-Managerin. Als solche sichert sie sich die Hilfe von gezüchteten
Neandertalern.
Fazit
Die Welt des Jasper Ffordes ist etwas ganz besonderes. Die von mir getroffene
Aussage kam in den oben genannten Texten bereits mehrmals um Tragen. Es ist die
Zeit in der Mitte bis Ende der 1980er Jahre einer parallel verlaufenden
Geschichte. Der Verkehr wird mit Zeppelinen durchgeführt, es gibt
interkontinentale Röhrenverbindungen nach New York und Tokio, oder von London
nach Sydney, wo man in weniger als einer Stunde mittels der Gravitube den
nächsten Kontinent erreicht, über die der Fernverkehr abgehalten wird. Es gibt
riesige Konzerne, die wie in der richtigen Welt meinen, ausserhalb der
Gesetzgebung zu stehen. Politik und Wissenschaft haben erheblichen Einfluss auf
das Leben der Bürger, die unbesonnen mit Menschenleben spielen, als seien es
Puppen. Zudem ist die Wissenschaft in der Lage, Neandertaler, ausgestorbene
Tiere und andere zu Klonen. England, im Krimkrieg gegen ein zaristisches
Russland unterlegen muss eine englische Kleinstadt als Reparaturleistung
abgeben, Wales ist eine unabhängige sozialistische Volksrepublik. Man müsste
es den heute lebenden Engländern mal sagen. Mal sehen, was sie davon halten,
ist doch gerade der Prinz von Wales traditionsgemäss der Thronfolger.
Die vier Bücher, eine Art Fantasy-Krimi, gehören zu denen, die man nicht so
schnell vergisst. Wenn man die Bücher selbst gelesen hat, kann man jedoch ganz
ungezwungen all das vergessen, was die Werbung auf Buchrücken schreibt, oder
was grosse Zeitungen, Spezialzeitschriften etc. ziemlich ungefiltert von sich
geben. Hier müsste man LiteraturAgent sein und eingreifen können. In den
wenigsten Fällen hat es auch nur Ähnlichkeit mit dem verglichenen Buch. Ich
habe zum Beispiel kein Verständnis dafür, wenn man Jasper Ffordes Bücher mit
Eric Blairs 1984 vergleicht, denn der dort geschilderte Überwachungsstaat hat
nichts mit den Büchern um die Heldin Thursday Next gemein. Lewis Caroll schrieb
eher märchenhafte Literatur und Douglas Adams ist ein Satiriker, der in den
meisten Fällen nicht verstanden wurde. A pro po verstanden. Den beiden
Übersetzern Lorenz und Joachim Stern sei hier einmal ein grosser Dank
ausgedrückt. Ich bin sicher, dass die englischen Witze und Anspielungen im
Original besser ankommen und es schwierig war, entsprechende Floskeln im
Deutschen zu finden. In diesen vier vorliegenden abwechslungsreichen Büchern
gibt es jede Menge Anspielungen auf die englische Literatur, seien es Charlotte
Bronté, Charles Dickens und andere mehr. Dass die vier Bücher trotzdem locker
leicht zu lesen waren, ist nur diesen beiden Männern zu verdanken.
Es ist nicht nötig, all die Bücher gelesen zu haben, die in den Büchern um
Thurs genannt werden. Eine gute Allgemeinbildung reicht aus, um sie zu
verstehen. Die einzige Einschränkung die ich mache, die Bücher sollten
unbedingt in ihrer Reihenfolge gelesen werden. Der Autor hat zwar jedes Buch
für sich abgeschlossen geschrieben, trotzdem gibt es buchübergreifende
Handlungsstränge, die erst im kausalen Zusammenhang wirken.
Obwohl die Bücher eindeutig der Unterhaltung zuzuordnen sind, lässt Jasper
Fforde keine Gelegenheit aus, fundierte Gesellschaftskritik zu üben, die die
Leserinnen und Leser durchaus nachdenklich stimmt. Dabei begann es mit der
allgemeinen Verulkung der britischen Klassiker. Gerade IM BRUNNEN DER
MANUSCRIPTE ist besonders Technologiekritisch. Obwohl gerade dieses Buch nur in
der fiktiven Welt der Bücher spielt, ist die kritische Haltung besonders
ausgeprägt. Ähnlich kritisch sieht Jasper Fforde auch die Konzerne. Aus dem
Goliath Konzern soll eine Religionsgemeinschaft werden und Jasper zieht hier
Vergleiche zum Scientology Konzern, der als Kirche anerkannt werden will, auch
wenn er es nicht direkt sagt. Auch die Gleichberechtigung, Selbstbestimmung und
Religionsfreiheit sowie der Umweltschutz sind Themen, die er immer wieder
anspricht.
Jasper Fforde besitzt einen wundervollen Internetauftritt. Die Seite bietet
jede Menge Artikel die sich mit der Welt von Thursday Next beschäftigen. Dort
werden viele Anspielungen gerade für Nicht-Briten erklärt. Dazu kommen
kleinere Spezialitäten in Wort und Bild. Es lohnt sich dort einmal umsehen,
oder auch auf der deutschen Seite.
Vorgeschlagen von erik schreiber
[Profil]
veröffentlicht am 09. Mai 2008 2008-05-09 09:00:21