Vivienne von Wattenwyl wuchs als "Vater-Tochter" auf; denn ihre Mutter
war früh verstorben. Eine sehr enge Bindung hatte sie an ihre Großmutter, eine
couragierte Person mit exakten Vorstellungen vom Leben einer Frau. Bernhard von
Wattenwyl rüstete 1923 eine aufwändige Safari nach Ostafrika aus, um für das
Naturhistorische Museum in Bern Großtiere zu jagen, die später präpariert und
in Dioramen ausgestellt werden sollten. Vermutlich hat er einfach über seine
Tochter verfügt, ohne sie zu fragen, ob sie ihn nach Afrika begleiten wolle
oder was ihre persönlichen Lebensziele gewesen sind. Seinen Lebenstraum,
Livingstone nachzueifern, erfüllte der alte von Wattenwyl sich so
selbstverständlich, wie er seiner Tochter den Wunsch nach einem Studium
abschlug. Obwohl Vivienne von widerspenstigem, einzelgängerischen Wesen war und
sich nie vorstellen konnte, als Ehefrau die "Sklavin eines Mannes" zu
werden, fügte sie sich den Wünschen ihres Vaters. Auf der Safari war Vivienne
ausgerechnet für das Ausweiden der Tiere zuständig. Lukas Hartmann schildert
sehr nüchtern die Strapazen tagelanger Fußmärsche, die elende Schinderei beim
Enthäuten der Tiere und beim Konservieren der Häute. Eine Reihe von
Verletzungen, Krankheiten und Malariaanfällen bei weißen und schwarzen
Expeditionsteilnehmern, die Vivienne zu behandeln hat, lassen beim Lesen erst
gar keine romantischen Afrika-Klischees aufkommen. Bernhard von Wattenwyl hat
nie in Frage gestellt, dass er Tiere tötet, um sie auszustellen, und dass er um
der Trophäen willen erheblich mehr Tiere jagte, als das Museum benötigte.
Allein Vivienne kommen Zweifel am Sinn ihrer Tätigkeit. Als ihr Vater stirbt,
übernimmt sie dennoch die Leitung der Expedition und führt sie mit eiserner
Entschlossenheit zu Ende.
Hartmann lässt Viviennes afrikanischen Diener Mogai zu Worte kommen, der sich
zunächst sehr schwer damit tat, seine Vorstellungen von einer weißen Frau mit
Viviennes Ansprüchen an ihn zur Deckung zu bringen. Mogais Sicht spricht das
Verständnis der Leser für die Situation der kolonisierten Bevölkerung
Schwarzafrikas an. Franz Baumann, ein Mitarbeiter des Berner Museums, schildert
die Zusammenarbeit mit den Wattenwyls sehr sachlich aus seiner Sicht. Nach zwei
Afrika-Expeditionen spielt Vivienne mit ungefähr 30 Jahren mit dem Gedanken an
eine Tätigkeit als Autorin oder Journalistin, doch aus heutiger Sicht
formuliert und verwirklicht sie keinerlei konkrete Ziele. Als Kind ihrer Zeit
liegt für sie der Gedanke an eine Art Vernunftehe näher als eine eigene
Berufstätigkeit. Vivienne lernt schließlich den erstaunlich unkomplizierten
Georg Groschen kennen und lieben, 13 Jahre älter als sie und offenbar ein
Naturtalent darin, widerspenstigen, verwilderten Frauen den Kopf zurecht zu
setzen.
Fazit
Lukas Hartmann stützte sich beim Verfassen seiner Romanbiografie auf drei
Bücher, die die wirkliche Vivienne verfasste, auf ein Tagebuch Baumanns und
Interviews mit Zeitzeugen. Er schildert lebendig und bewegend das Schicksal
einer tatkräftigen Frau, für deren ungestüme Persönlichkeit die Zeit Anfang
des 20. Jahrhunderts noch nicht reif war. Landkarten und bibliografische
Hinweise runden Hartmanns lesenswertes Frauenportrait ab.
Vorgeschlagen von Helga Buss
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veröffentlicht am 30. April 2008 2008-04-30 19:20:04