Philipp Mainländer wurde am 5. Oktober 1841 in Offenbach am Main als jüngstes
von fünf Geschwistern in die Unternehmerfamilie Batz geboren. Nach dem Besuch
der Realschule in Offenbach setzte er - auf den Rat des befreundeten Karl
Gutzkow hin - von 1856 bis 1858 seine Ausbildung auf einer Handelsschule in
Dresden fort. Unter dem Einfluss von Gutzkow und seinem Pensionsvater Prof. Dr.
Helbig, Oberlehrer an der Dresdner Kreuzschule, entdeckte Mainländer das
"geistige Universum" und hinterließ uns ein bedeutendes und zugleich
beeindruckendes Werk. Es ist dies ein Werk, welches nicht nur als Fortschreibung
des schopenhauerischen Pessimismus zu lesen ist - das Schopenhauererlebnis
hatten Frauenstädt oder Nietzsche ebenso wie Mainländer - sondern es ist als
Werk zu lesen, das von der Antizipation aktueller Metatheorien zeugt und auf
Basis dieser Fähigkeit eine einmalige individuelle philosophische Qualität in
sich trägt.
Aufgrund einer halbjährigen Europareise im Auftrage seines neapolitanischen
Arbeitgebers weilte Mainländer 1860 kurz in seiner Heimat. Hier hatte er dann
sein philosophisches Initiationserlebnis. Zufällig entdeckte er in einer
Buchhandlung Schopenhauers Hauptwerk. Er ergriff es und stürze wie ein
Verrückter aus dem Laden nach Hause, wo er den ersten Band hastig zu lesen
anfing. Mainländer traf nicht unvorbereitet auf philosophische Ideen.
Schopenhauer wurde spiritus rector, philosophische Leitfigur, an der er seine
Philosophie mit dem Anspruch entwickelte, jenen zu modifizieren und
weiterzuentwickeln. Es entstand nun etwas Großes, Eigenständiges.
Der große Reiz, der von Philipp Mainländer ausgeht, liegt wohl hauptsächlich
in seiner Philosophie des Zerfalls begründet, einem Gedankengerüst, das zu
Streit und Ablehnung herausfordert. Erstaunen und Bewunderung bis ins 21.
Jahrhundert hinein waren ihm dennoch stets sicher. Ein weiterer Reiz, der zum
Lesen, Denken und Nachforschen anregt, liegt in seiner Person selbst. Dieser
Philosoph und Dichter, der lange vergessen war, obwohl er sich im 19.
Jahrhundert als Autodidakt konsequent in die erste Reihe der
Schopenhauer-Schüler geschrieben hat und den Größenwahn und die geistige
Verwirrung schon vierzehn Jahre früher als Nietzsche erleben durfte, der seine
Philosophie schließlich konsequent und am Strick hängend verlebt hat - der hat
es in der Tat verdient, in die Welt der Menschen, in die Immanenz
zurückbeordert zu werden.
Dies nun geschieht vortrefflich mit der vorliegenden ersten Biographie über
Philipp Mainländer, welche verfaßt zu haben der Schriftsteller Guido
Rademacher sich loben kann. Und wahrlich, entstanden ist ein gut leserliches
Buch nicht ohne Humor, welches das Leben des Philosophen darstellt, denselben in
seiner Zeit verortet und zugleich anhand dieser Beschreibungen das
philosophische Werk verständlich und ergreifend darstellt. Insbesondere geht es
dem Autor um das literarische Werk Mailänders, welches sehr detailliert
aufgeführt wird. Damit absolviert er einen Schritt, den die bisherige
Sekundärliteratur über Mainländer kaum tat: Es geht ihm insbesondere um eine
Analyse der Novellen und dramatischen Gedichte, namentlich "Die letzten
Hohenstaufen" (1876) und um den literarischen Nachlaß.
Es ist dies eine recht schwierige Aufgabe, der sich das Buch kenntnisreich
stellt und einen erstmaligen Gesamtblick auf Leben und Werk mit einem besonderen
Schwerpunkt auf Prosa und Lyrik des Mythopoeten darbietet. Es spricht damit
nicht nur den Philosophie-Interessierten sondern auch den Lyriker an. Mit Witz
und Wissenschaft geht es darum, wie aus dem Willen zum Leben (Schopenhauer) der
Willen zum Tode (Mainländer) wurde, um dennoch zu der Erkenntnis zu gelangen:
"Der Pessimist ist eigentlich ein gut unterrichteter Optimist." (IX)
Das ist wahrlich eine Kunst - so wie das gesamte Leben Mainländers dahingehend
als Kunstwerk gesehen werden kann, daß es jene Worte lebte und mit ihnen starb,
die er selbst in sein Hauptwerk niederschrieb.
Am 31. März 1876 erhielt Philipp Batz die Belegexemplare seiner Philosophie der
Erlösung. Darin legte der vierunddreißigjährige Schopenhauerianer sein System
des Weltpessimismus vor, das in der Überzeugung kulminierte, der Freitod sei
die Lösung der metaphysischen Probleme. Die Veröffentlichung seines Hauptwerks
unter dem Pseudonym Philipp Mainländer war der letzte Akt einer todernsten
Inszenierung - eben eines Kunstwerkes - auf den der junge Philosoph wartete, um
sein Leben mit seinem Denken in Einklang zu bringen, ihm die Krone der
Konsequenz aufzusetzen. Er wollte mit dem Opfer seines Lebens zeigen, daß man
von den höchsten Dingen - solche waren für ihn die Lehre vom Weltschmerz -
nicht nur eine Beweisführung, sondern ein faktisches Zeugnis ablegen muß. Er
erhängte sich in der Nacht vom 31. März auf den 1. April 1876.
In zahlreichen Punkten des naturwissenschaftliches Weltbildes war Meinländer
seiner Zeit voraus. Es geht dabei nicht um Irrsinn, Debilität und
Lebensmüdigkeit, sondern um die Bereitschaft, die Widrigkeiten des Lebens
tatsächlich zu erspüren und in eine Philosophie der Erlösung einzubetten. Und
so läßt sich Mainländers Metaphysik der Entropie, des Verfalls, seine
Wissenschaft des Atheismus so resümieren:
1. Gott wollte das Nichtsein.
2. Sein Wesen war das Hindernis für den sofortigen Eintritt in das
Nichtsein.
3. Das Wesen, die vorweltliche Einheit, mußte zerfallen in eine Welt der
Vielheit, deren zunächst lebendige Teile nach dem Nichtsein streben.
4. In diesem Streben hindern sie sich gegenseitig und kämpfen.
5. Die ganze Welt hat das Ziel des Nichtseins - sie unterliegt der
kontinuierlichen Schwächung von Lebenskraft.
6. Jedes Individuum wird durch Schwächung seiner Kraft zu einem Punkte
gebracht, wo seine Vernichtung erfüllt wird - unweigerlich. Das von Gott einst
gewollte Nichtsein - nihil negativum - ist erreicht.
Das ungeheuerliche dieser Philosophie besteht also darin, daß Gott sich selbst
tötete - er hat sich eigens zum Selbstmord entschieden. Die Transzendenz
erlöst sich quasi von sich selbst. Auf diesem Wege durchschreiten wir den
Prozeß vom Ursein (wirkliches Sein) hin zum Nichtsein. Der wissenschaftliche
Atheismus ist - noch vor Nietzsche - damit begründet. Mainländer schreibt:
"Der Atheismus, wie ihn meine Lehre begründet, (...), gibt dem großen
Problem der Entstehung und Bedeutung der Welt, mit der Lösung zugleich auch die
Erlösung." Mainländer setzte das Himmelreich gegen das absolute Nichts,
vor dem er sich nicht fürchtete. Sein Argument: "Wer das Leben verneint,
verschmäht nur das Mittel desjenigen, welcher es bejaht; und zwar deshalb, weil
er ein besseres Mittel als dieser zum gemeinsamen Zweck gefunden hat."
Dieser Zweck ist also unweigerlich bei beiden dadurch, daß das Leben als
Entropievermehrer wirkt, der Tod. Durch diesen Erlösungsgedanken lassen sich
die Widrigkeiten des Lebens mit lächelnder Miene hinnehmen - oder mit
Schopenhauer: durch die Kraft der intellektuellen Anschauung.
Rademacher betont nun auch eindringlich die "Sehnsucht nach Befreiung von
der Lebensqual" (48), welche in Mainländer brannte. Das Universalgesetz
des Leidens wird im vorliegenden Buch zum treibenden Motor der mainländerschen
Philosophie und insbesondere seines lyrischen Werkes. Alles konzentriert sich
darauf, daß die immanente Welt bei Mainländer für Bewegung und Notwendigkeit
steht, die transzendente Welt aber für Ruhe und Freiheit. Allein die
Inhaltsübersicht läßt die Absicht erkennen, daß es dem Autor darum geht,
diese Tiefe dem todesentwöhnten Menschen der Gegenwart klar zu machen:
"Zum Zerfall geboren" (15ff.), "Das Walten des Schicksals"
(25ff.) - "Die Erlösung" (221).
Der regelmäßige Bezug zu Hieronymus Lorm, Philosoph und Erfinder des
Testalphabets für Taubblinde, lockert die Lektüre auf und schildert die
Parallelitäten zweier Geister, die sich stets an der Grenze des Seins bewegten.
Lorm stellte sich der grundsätzlichen Aufgabe des Philosophen, nämlich, den
Staat und solche Literaten anzugreifen, die sich der Zensur beugen und eigene
Ideen vor drohender Strafe verbergen. - Lorms Hauptwerk "Der grundlose
Optimismus" (1894) - ein in Goldschnitt gebundenes Leinenbuch - wagt
entsprechend den Versucht, zu erklären, daß das Leben Leiden ist und es nur
durch einen grundlosen Optimismus erklärt werden könne, daß die Menschen
trotz dieses täglich sich bestätigenden Sachverhalts dennoch den Willen zum
Leben haben.
Fazit
Mainländer hat seine Metaphysik der Entropie beispielhaft zu leben und zu
sterben gewußt. Lorm lebte aber aus überzeugtem Pessimismus einen gnadenlosen
Optimismus und starb betagt, blind und taub erst im neuen Jahrhundert 1902 in
Brünn. Es empfiehlt sich, Lorm und das Buch Rademachers parallel zu lesen - und
man betritt einen neuen Kosmos. Es sind dies zwei Philosophen von gleicher
Durchschlagkraft, die hingegen unterschiedliche Konsequenzen zogen. Dennoch sind
sie miteinander verknüpft. Und so dichtete Lorm - und dies stellt Rademacher
ans Ende seines längst überfälligen Buches:
Mir glänzt kein Stern, mir schallt kein Ton,
Als schloss’ mich ein die Grube schon;
Doch trägt mich eine Welt, die nicht,
Bedarf der Erde Laut und Licht.
In meiner grausen Lebensnacht
Hab’ ich die Sonne mir erdacht,
In einem Reich, das ohne Klang,
Erfreut mein Herz mich mit Gesang.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
[Profil]
veröffentlicht am 29. März 2008 2008-03-29 17:34:36