Der Frühvollendete und Germanist Eugen Gottlob Winkler schrieb vor seinem
Suizid 1936: "Bücher bilden uns allgemach eine Welt, die abseits und nur
für sich besteht als eine gewaltige Aufbewahrungsstätte von Möglichkeiten des
Geistes, deren Kenntnis uns für die Anforderungen eines seltsam neu und anders
empfundenen Lebensbereiches nur wenig Hilfe zu bringen scheint." (Eugen
Gottlob Winkler, Ernst Jünger und das Unheil des Denkens, 2008, S. 6) Es
handelt sich hier um eine Erkenntnis aus einem Buche, welches er über Ernst
Jünger schrieb. Wie kaum einem anderen gelang es Ernst Jünger in der Tat, mit
seinen Büchern eigene Welten zu schaffen, die Seele des Lesers seiner Zeit
anzusprechen. So schlussfolgert Winkler in seiner kleinen Schrift schon sehr
früh: "Wir brauchen Ernst Jünger". (ebd.)
Die vorliegende Biographie befasst sich mit dem Phänomen Jünger und stellt die
vielen Facetten seines Werkes heraus, die sich niemals in ein einziges Schema
einordnen lassen. Praktizierte Jünger einst selbst die stereoskopische Lektüre
seiner favorisierten Autoren, d.h. das vielseitige Querlesen und Abgewinnen
allseits nützlicher Komponenten in jedem Buch ohne ideologische Vorbehalte, so
ist der heutige Leser ebenso aufgefordert, eine integrale Lesekompetenz an den
Tag zu legen, um Jüngers komplexes Werk zu erfassen und zu verstehen - aus sich
selbst heraus, ohne den oberflächlichen Verurteilungen anheim zu fallen. Dafür
eignet sich die Biographie Kiesels, die nicht trennt, sondern Ernst Jünger und
den potentiellen Leser verbindet. Das stereoskopische Lesen vereint alle
Gegensätze. Jünger selbst nannte diese Sichtweise "stereoskopisch".
Der stereoskopische Leser beobachtet den Text, schafft sich eine vom momentanen
Abbild des Textes abstrahierende Anschauung und gewinnt damit eine dialektische
Optik, die ein und derselben literarischen Konfiguration zugleich zwei
Sinnesqualitäten abgewinnen kann. Der Leser agiert mehrdimensional, erstellt
Verknüpfungen zu bisher Gelesenem und erfaßt den Inhalt der Lektüre
komplementär.
So ist nun auch das vorliegende Buch Kiesels einmalig: Es betrachtet das Werk
Jüngers als Ausdruck eines Lebens und ordnet es entsprechend sinnvoll in die
Zusammenhänge, in denen es sich entfaltete, ein. Kiesel übernimmt dabei die
Perspektive Walter Benjamins und absolviert damit die Darstellung bisher
derartig nicht dargebrachter Dimensionen. Interessant sind die Abbildungen
(484-485): Frühsommer 1940 - Jünger als Kompanieführer auf dem Vormarsch
über Sedan in Richtung Paris. Kiesel schreib hier, daß dies die Zeit war, in
der der Schriftstellerkollege Walter Benjamin in Richtung Lissabon auswich. Die
Kunst des Buches besteht darin, jene Fakten zu benennen, ohne ideologisch zu
urteilen. Und in der Tat kann man dem Wege Benjamins und Jüngers mehr
abgewinnen, als den bisher reproduzierten Begriffsschrott deutscher
Nachkriegsdemokraten: Benjamin beispielsweise wurde nicht von den
Nationalsozialisten in den Tod in Richtung Spanien gehetzt, sondern hatte seit
jeher eine suizidale Affinität und Abgeneigtheit dem Leben gegenüber, in dem
er stets nach fester Ordnung und Orientierung suchte und diese nicht fand -
lange vor dem Krieg. Was Jüngers ästhetizistische Metaphorisierung des Krieges
angeht, so kann auch diese nicht ideologisch kritisiert werden, wenn man
bedenkt, daß die totale Ideologisierung in Jüngers Zeit objektive Gültigkeit
besaß. Und ist man ehrlich, so wird vielerlei Urteilen der Gegenwart in zehn
Jahren wiederum als Ideologie und temporäre Erscheinung entlarvt werden
können.
Kiesel betont richtig, daß es eben nicht so einfach sei, "ein geradezu
pathologisch wirkendes Szenarium zu beschreiben, in welchem in einem Klima der
Unverantwortlichkeit ein ideologisch oder mentalitätsmäßig begründeter Zwang
herrschte und einen Automatismus entstehen ließ, der die politischen Akteure
(...) gleichsam zu Marionetten machte und große Teile der Bevölkerung
applaudieren ließ." (182) Daran hat sich nichts verändert - bis heute. Es
herrscht immer die vom Mitläufertum getragene normative Kraft des jeweils
Faktischen, die sich aber immer dynamisch verhält. Nichts ist wahr, nur weil es
gerade als unerbittlich wahr dargestellt wird. Und so gibt es die Erkennenden
und die Mitläufer. Jene behalten recht und stehen aus Überzeugung außen vor,
die anderen behalten stets Unrecht, bleiben aber die stets opportunistisch
Agierenden und vorteilhaft Integrierten innerhalb jener Strukturen, die sich
regelmäßig selbst erübrigen, obwohl sie vorher für dauerhaft wahr gehalten
wurden. Wie dem auch sei.
Fazit
Kiesels Buch ist von einer Kraft geprägt, die viele Denk-Konstellationen beim
Leser entfacht. Das Buch fordert zur dialektischen Optik beim Lesen Jüngers
heraus und praktiziert diese Optik in sich selbst. Es zeigt aber auch gerade
damit, daß es eine Biographie mit werkbiographischem Schwerpunkt ist, die
angesichts der Komplexität jüngerscher Denkwelt nicht das letzte Wort sein
kann, das über das Werk Ernst Jüngers möglich ist.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 29. März 2008 2008-03-29 11:21:21