Unter kybernetischen Systemen versteht man - so ein kybernetisches Fachbuch aus
der DDR - einen besonderen Typ dynamischer Systeme, der dadurch gekennzeichnet
ist, daß jede Folge von Systemzuständen einem Gleichgewichtszustand anstrebt.
"Kybernetische Systeme erreichen diesen Zustand eines Gleichgewichtes durch
Rückkoppelungen. (...) Höhere Formen kybernetischer Systeme haben die
Fähigkeit der Optimierung und Selbstorganisation." (Wörterbuch der
Kybernetik, Dietz-Verlag, Berlin, 1968, S. 335/336)
Das Buch erkennt weiterhin völlig richtig, daß die Kybernetik Brennpunkt
philosophischer Auseinandersetzungen ist und war, wendet sich aber gegen die
Auffassung einer kybernetischen Widerlegung des Materialismus. Es ist gegen die
Haltung, Kybernetik sei nichtmateriell bestimmt. Keine Frage, daß das
DDR-Gedankengerüst des Historischen Materialismus dies behaupten mußte und
überzeugt war, die Kybernetik sei wesentlich materialistisch und dialektisch.
(Ebd., S. 32) Dennoch waren kybernetische Haupttheorien und Denker stets
Vertreter des Idealismus, insbesondere des Deutschen Idealismus, denn nur dort
wurde versucht, das Wesen des Seins in seiner Komplexität und Ganzheit zu
erfassen - jenseits einer immer nur im Partikularen verharrenden empirischen
Erkenntnistheorie.
Auch die Kybernetik faßt also den Menschen als komplexen Funktionsmechanismus
auf, der sich zudem nicht prinzipiell von Maschinen unterscheidet. Von Anfang an
definierte sie sich gerade deshalb als neue Einheitswissenschaft. Ihre
Anwendungsfelder haben sich jedoch im Laufe der Zeit stark gewandelt und mit
ihnen auch die zugehörige Theorie. Um 1930 wurde die Kybernetik Generator
beispielloser Technisierung, Mitte der fünfziger Jahre wurde sie zu einem
wissenschaftlich und gesellschaftlich wirksamen Arbeits-, Ordnungs- und
Deutungsinstrument, insbesondere wie eingangs betont in der DDR. Schließlich
führte sie mathematisch-technisches Denken in die Humanwissenschaften ein und
veränderte so das Verständnis des Sozialen, des Politischen und des
Ökonomischen, des Psychischen, der Künste und auch des Denkens.
Das vorliegende Buch rekonstruiert in einem bisher kaum derartig existenten
Überblick die wichtigsten Etappen ihrer wissenschaftshistorischen Entwicklung.
Es stellt heraus, inwieweit die Kybernetik das Bewußtsein von den
technologischen Bedingungen einer humanen Welt hinterlassen hat. Insbesondere
wird hier völlig zu recht mehrfach und notwendig auf Gotthard Günther
(1900-1984) eingegangen, war er doch der große deutsche kybernetische Vordenker
und entwarf gerade eine Metaphysik der Kybernetik, in deren Folge sich dieselbe
- so betont ein Beitrag des Buches - bis heute als Wasserscheide darstelle.
Diese besteht darin, uns von der Moderne und ihren Kategorien wie der Gegensatz
von Geist und Materie oder Seele und Körper zu trennen. Kybernetik war also
stets integral: materiell und ideell. Sie sah die Verbindung zwischen geistigen
und materiellen Determinanten. Mensch und Maschine wurden als eines gedacht, so
auch explizit bei Günther. ("Das Bewußtsein der Maschinen", 1955)
Getragen von der Idee des umfassenden Steuergedankens (19) sah die Kybernetik
mit Günther die Geburt eines neuen transklassischen Zeitalters (26). In diesem
sah Günther mit seiner Geschichtsmetaphysik bereits die Tendenz, daß sich der
Mensch durch die Produktion technischer Umwelten neu erfindet. Der Mensch
wiederholt sich in technischer Nachbildung. Diese Anerkenntnis einer neuen
conditio humana gilt als großer Erkenntnisschritt in der Kybernetik. Hoch zu
schätzen ist deshalb, daß das vorliegende Buch stets betont, wie sehr
Günther, einst Assistent von Arnold Gehlen in Leipzig, Hegelianer war und wie
sehr die Kybernetik folglich durch den Deutschen Idealismus beeinflusst war.
Günther parallelisierte auf Basis dieser Erkenntnis die menschlichen Denkweisen
und Maschinenarten, nahm gleichsam das heute nicht mehr weg zu denkende Bild
voraus, daß Computer virtuelle Abbilder menschlicher Denkweisen und papierner
Verwaltungswege sind, daß das Internet eine große Abbildung des menschlichen
Gehirns samt aller vorhandenen Informationen darstellt.
Und mehr noch: Der Leser erkennt insbesondere, inwieweit derartig modernes
Denken bereits bei Hegel angelegt war. Die Maschinen verändern nicht nur das
Bild des Denkens, sondern auch seine Erfahrungsweisen und das seelische Klima
überhaupt. Der Beitrag "Das kybernetische Bild des Denkens" stellt
richtig heraus, daß Günther mit der Überschreitung der überlieferten Logik
im Deutschen Idealismus begonnen und diese für die technische Welt entziffert
habe. (189) Günthers kybernetische Reinterpretation der deutschen
Transzendentalphilosophie kommt im Buch viel Bedeutung zu, ebenso der Idee einer
kybernetischen Zukunft der Philosophie, wobei - so Günther - Ansätze zu einer
solchen Theorie in der deutschen und nur in der deutschen Tradition längst
vorhanden waren. "Die deutsche Philosophie und mit ihr de deutsche
Wissenschaft steht heute an einem Scheideweg. Gott gebe ihr die Kraft zum
rechten Entschluß" (zit. aus S. 194)
Sollte man Kritik am vorliegenden Buche üben, so wäre die inhaltliche Lücke
zu nennen, die sich durch die thematische Negation des Themas der Kybernetik
für die politikwissenschaftliche Forschung auftut. Wie eingangs betont, ist in
der Kybernetik die Fähigkeit der Optimierung und Selbstorganisation von
Bedeutung. Das ist zugleich eine eminent politische Frage.
Da politischen Systemen nach politologischer Kybernetik und
Systemkrisenforschung die Potentialität des optimierten auch
Anders-Sein-Könnens der Realität innewohnt, hätte eine enthalten gewesene
Analyse darüber, wie sich politische Werte aus wandlungsfähigen
Rechtsverhältnissen definieren, einen weiteren Gewinn signalisiert. Für ein
offenes demokratisches System, welches wir zumindest mit Blick auf kybernetische
Erkenntnisse nicht haben, ist bereits die situationsspezifische Anpassung der
legislatorischen Ziel- und Sollwerte an die wandelbaren Ambitionen der
gesellschaftlichen Gemeinschaft unerlässlich. Es geht um eine bessere
Vermittlung subjektiven Wollens an das politische System. Und hier hätte der
von Günther herkommende Sozialphilosoph Johannes Heinrichs benannt werden
müssen, der gleichsam den von Günther geforderten Entschluß zur
Weiterführung des Deutschen Idealismus in diesem Sinne gefasst hat. Er sieht
als Lösung vor, daß die Volksvertretung wandelbare gesellschaftliche
Ambitionen in Form des inhaltlich offenen Grundwerteparlamentes realisiere und
Sollwerte den Zeitumständen gemäß durch die interne abstimmungsrelevante
Bezogenheit mehrerer Sachparlamente zueinander so anpasst, dass den
Erkenntnissen politologischer Kybernetik Rechnung getragen wird.
Politische Kybernetik stellt damit in ihrer Wahrnahme statischer und dynamischer
Normierung selbst eine Analogie zur kritischen Reflexion dar, welche zumindest
der heutigen Parteipolitik nicht zugestanden werden kann. Diese bleibt seit der
Gründung der Bundesrepublik recht statisch und reproduziert politische
"Werte", die ggf. 1949 aktuell waren. Kreislauffähige Nachhaltigkeit
bleibt also weiterhin politische Herausforderung an die Kybernetik. So finden
sich z. B. gentechnologische Fragen in Verbindung mit Grundwerte- und
Wirtschaftsfragen des sozialen Organismus. Beide Bereiche dürften keiner
ideologischen Unterbindung des integralen reflexiven Prozesses unterliegen, wie
dies aber gerade ein System von ideologisch gebundenen Parteien aus der
Nachkriegszeit voraussetzt. (Vgl. Daniel Bigalke: Der Streit um die deutsche
Nachkriegsdemokratie. Zweihundert Jahre deutsches Staatsdenken und
bundesdeutscher Parlamentarismus im Fokus einer neuen Wissenschaft von Politik
und Reflexion, Saarbrücken, VDM, 2007, 162 S.)
Fazit
Eine politikwissenschaftliche Aufarbeitung kybernetischer Fragen steht damit
noch aus.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
[Profil]
veröffentlicht am 02. März 2008 2008-03-02 11:25:16