Im Jahre 1957 erschien ein unscheinbares Büchlein mit dem Titel "Denker
unserer Zeit" bei Pieper, in dem die sozialen, politischen und
gesellschaftlichen Entwürfe der geistigen Elite jener Zeit versammelt waren,
darunter Oswald Spengler, Arnold Toynbee, Alfred Weber, José Ortega y Gasset,
Karl Jaspers, Eduard Spranger, Henri Bergson und auch Max Scheler. Scheler war
vertreten mit einem Ausschnitt namens "Mensch- und Gottwerdung".
(123-130) Es ist dies ein Ausschnitt aus seinem zentralen Werk "Die
Stellung des Menschen im Kosmos", welches jetzt bei Bouvier in neuer
Auflage wieder neu erschien. Es liegt damit eine Schrift vor, die wie kaum eine
andere für die leidenschaftliche Gedankenführung Schelers steht und ihm
vielleicht wieder den Titel "Denker unserer Zeit" zufallen lassen
möge.
In seiner Beobachtung des gelebten Lebens war Scheler ein vitaler Mensch. Er
schaute dem "Volk" aufs Maul. Der Mensch aller Klassen und Rassen war
ihm Maßstab aller Dinge, nicht aber als Zufallsprodukt der bloßen Natur,
sondern als Mensch aus kosmischer Perspektive. So wird Scheler im vorliegenden
Buch nicht müde zu betonen, daß der Mensch den Zufall, die Kontingenz der
Tatsache, daß überhaupt Welt ist und nicht vielmehr nicht ist, mit
anschaulicher Notwendigkeit in demselben Augenblicke entdecken müsse, wo er
sich überhaupt sich selbst und seiner Welt bewußt geworden ist. Er spricht von
einer "einheitlichen Idee vom Menschen" (10) und dem "psychischen
Urphänomen des Lebens." (12) Diese berühmteste Schrift Schelers stellt
also dar, daß Gott sich aus seinem Seins-Urgrund zu seiner eigenen Vollendung
zu seiner endlichen Herrschaft durch Liebe im Menschen selbst entwickelt. Es
ging Scheler um das dezidiert philosophische Dasein, das jeder führe, wenn er
sich nur des Wunders seiner Existenz bewußt werde.
Scheler tritt uns in diesem Buch entgegen als Vertreter der modernen
philosophischen Anthropologie, noch vor Arnold Gehlen. Seine Lehre von der
speziellen, geistigen und bewegenden Energie im Menschen verleugnet auch nicht,
daß der Schlaf als pflanzlicher, statischer Zustand des Menschen zu gelten
habe. Freilich sind hier gewisse Anlehnungen an Spenglers Theorie des
pflanzlichen Daseins gegenüber dem Tiere zu erkennen, weil Spengler schon im
"Untergang des Abendlandes" die "Gebundenheit und
Beweglichkeit" als Prinzipien beider Lebensformen entgegenstellte.
Diesem recht unscheinbaren Büchlein Schelers jedoch kommt der Verdienst zu,
eine philosophisch-anthropologische Neubestimmung des Wesens des Menschen
abzugeben, welche insbesondere auch die wissenschaftlich-biologischen
Erkenntnisse seiner Zeit (20er-Jahre) berücksichtigt. Es entwirft insbesondere
eine "Metaphysik des Menschen" (40), die den "Akt der
Ideierung" (55) als zentrales Prinzip des Menschseins ausmacht. Es besagt:
"Das ursprüngliche Wirklichkeitserlebnis als Erlebnis des Widerstandes der
Welt geht also allem Bewußtsein, geht aller Vorstellung, aller Wahrnehmung
vorher." (60) Aber: Der Mensch ist der Einzige, der gegen die Wirklichkeit
aus eigenem Willen "Nein" sagen kann, sie transzendieren kann, ihr
einen metaphysischen Sinn geben kann.
Diese Vergeistigung der Drangsale des Lebens sei das Ziel und Ende endlichen
Daseins. Zugleich spricht Scheler sich gegen Ludwig Klages Gegensatz von Geist
und Leben aus. Diesen Gegensatz zwischen Leib und Seele (Physis und Psyche)
überwindet Scheler durch Vereinigung: Physis und Psyche sind nur zwei
verschiedene Aspekte des gleichen Lebens. Geist und Leben gehören zusammen und
der Geist ideiert, transzendiert das Leben je nach eigenem Willen. Das kleine
Werk wird damit zu einer kampfeslustig auftretenden und gesunden Dekonstruktion
aller naturalistischen Auffassungen, die die Ursprünglichkeit des Geistes
verneinen, so etwa Epikur oder der Engländer David Hume, die das
formal-mechanische Prinzip auf die Spitze treiben und dem Geiste selbst die
lebensschöpferische Kraft abzuerkennen trachten. Scheler steht damit schon in
der Tradition der klassischen deutschen Idealisten, deren Geisteszentrismus auf
der Insel schon immer recht rar gesät war.
Zugleich erklimmt Scheler seine eigene Spitze, der wir wohl eher etwas
abgewinnen können: Welt-, Selbst- und Gottesbewusstsein seien als tendenziell
eines zu denken. Sie sind der Nexus des Menschen zum Weltgrund. Die Erfassung
des Überirdischen ist damit zutiefst menschlich und beginnt schon bei der
Frage, die nur der Mensch sich stellt: Warum ist überhaupt etwas. Und genau
hier muß der Naturalismus passen, den die mechanistisch erklärte Entstehung
aller Dinge muß an einem Punkte enden, an dem auch sie nicht mehr sinnvoll
Antwort zu geben befähigt ist und an der Gott ins Spiel kommt. Für Philosophen
ist Schelers Werk eine Komplementär-Lektüre zu Gehlen, Husserl oder Heidegger.
Fazit
Für Neueinsteiger ist es aber auch leicht zu lesen. Es schließt trotz seiner
beschriebenen Tiefe auch nicht aus, daß Elementarphilosophen die am meisten im
Leben stehenden Menschen sind: "Wer das Tiefste gedacht, liebt das
Lebendigste" (97)
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 09. Februar 2008 2008-02-09 18:31:36