Den Umsturz der moralischen, philosophischen und politischen Werte haben zu
ihrer Zeit Nietzsche und Simmel thematisiert. Sie wiesen darauf hin, daß wenn
sich Pragmatismus und Relativismus durchsetzen, die Werte an Undeutlichkeit
zunehmen und es keine festen Orientierungen mehr gebe. Der Gedanke des Todes
Gottes bei Nietzsche ist nichts weiter als Ausdruck einer entsprechenden
Gleichgültigkeit darüber und gedankliches Ergebnis eines lediglich konsequent
zu Ende gedachten Verlustes von Halt - nicht aus Überzeugung, weil es so sein
solle, sondern aus Anerkennung dieser unausweichlichen Entwicklung. So versteht
Nietzsche nun auch den Nihilismus. Nihilismus bedeutet für ihn im postumen
Nachwerk "Wille zur Macht" (1901), "daß die obersten Werte sich
entwerten. Es fehlt das Ziel. Es fehlt die Antwort auf das `Wozu`?". Die
Radikalität der Nihilisten und der aufkommenden Revolteure, welche das 20.
Jahrhundert in Europa prägen sollten, speist sich gerade wieder aus einer
Gegenbewegung, der sinnsuchenden Utopie, die jedoch am Ende als Ideologie
erstarrte. Dieser Gefahr ist jeder Revolteur unterlegen - ob Marxist,
Antiautoritarist, Faschist, Syndikalist oder Demokratist. Sie sind Brüder im
Geiste.
Der vorliegende Essay von Albert Camus befasst sich mit diesen Phänomenen. Er
gleicht einer tiefgründigen Jagd durch die politische Ideengeschichte der
Moderne, durch die aus Geschichtsphilosophien aller Spielarten hervorgegangenen
politischen Theorien und Heilsbotschaften. Camus entdeckt hier untergründige
Verwandtschaften zwischen offenbar gegensätzlichen Ideologien. Er spitzt die
Theorien und politischen Strategien bis zum Selbstwiderspruch zu, entdeckt
Korrelationen und entlarvt freilich Utopie, Ideologie und Sektierertum in ihnen
allen. Eines sei ihnen allen immanent: "Ursprung der Revolte" ist
"Aktivität und Energie" (25), mit deren Kraft der Revoltierende
"für die Unversehrtheit eines Teiles seines Wesens" (26) kämpfe -
wäre da nicht die abschließende Entartung und kontraproduktive Zuspitzung, die
jeder politischen Haltung, auch der wohlfeilsten, innewohne.
Im vorgeblich anti-bourgeoisen Marxismus entdeckt Camus eine bürgerliche
Wissenschaftsfrömmigkeit. Den auf szientifische Exaktheit bedachten
Positivismus entlarvt Camus als unwissenschaftlich. Der klassische,
freiheitliche Anarchismus sei eher autoritär und diktatorisch. Die
jakobinischen "Freunde des Volkes" blieben zur Zeit der französischen
Revolution einsame, isolierte und von den Massen unverstandene Sektierer. Selbst
den Antisemitismus des Nationalsozialismus konfrontiert er mit einer an
Erlösung glaubenden Rebellion, welche biblische Versatzstücke in sich berge -
der Klassiker einer politischen Religion also als Ergebnis einer anfänglichen
nationalen Rebellion, die den Schuldigen zu wissen meinte. "Jede Religion
kreist um Schuld und Unschuld. Prometheus, der erste Rebell, erklärt indessen
das Recht des Strafens für unstatthaft." (272) Camus plädiert hier für
die Bedeutungslosigkeit der Kategorien von Schuld und Sühne zum Zwecke des
freien und nüchternen Gedankens, der allein zum sinnvollen Handeln führe. Und
sind wir ehrlich, so entdecken wir immer noch das Bedürfnis selbst heute, für
vieles sofort den Schuldigen zu kennen und entsprechend an die Wand zu malen. -
Alles politisch unreif! So würde Camus urteilen.
"Die Rebellion des Menschen endet als metaphysische Revolution". Ihr
Weg führt vom "Scheinen zum Handeln, vom Dandy zum Revolutionär."
(37) Sehr spannend ist also der Exkurs durch die revoltierende Haltung in der
europäischen Geistesgeschichte, und zwar von De Sade, beim Dandy, bei Sokrates,
Stirner, Jesus, Déscartes, Hegel, von Zarathustra, de Maistre, Nietzsche und
Ernst Jünger, den Camus - nicht ohne Verwunderung - mit seinem rebellischen
Diktum "Werden ist mehr als Leben" (205) zitiert. Wir erhalten hier
einen beeindruckenden Einblick in rebellisches Gedankengut, nicht unkritisch
dargeboten, sondern bewundernd aber distanziert. Dafür spricht das potentielle
Bedürfnis Camus’, jegliche Ideologie zwar zu verstehen, in ihrer Konsequenz
aber ad absurdum zu führen.
Camus Fazit: Mit fanatischen Anhängern einer Ideologie oder eines Glaubens
läßt sich nicht diskutieren - und da sind Christen und Demokraten ebenso wenig
auszunehmen, wie Faschisten oder Marxisten. Die einen streben nach
innerweltlicher, die anderen nach außerweltlicher Erlösung. Beiden entgeht die
sich jeweils aktuell bietende, relative Veränderungsmöglichkeit, deren
Wahrnehmung eine fortgesetzte "Spannung" und Aufmerksamkeit erfordert.
Ein "gelobtes Land" absoluter Gerechtigkeit, Menschenwürde und
Aufrichtigkeit gibt es auf Erden nicht zu entdecken. Wir können immer wieder -
soweit der Leser das erforderliche Abstraktionsvermögen besitzt -sagen:
"Recht hat er!"
Aus camusianischer Sicht schafft die Möglichkeit zur Auflehnung der
menschlichen Natur anfänglich eine Perspektive. Ihren Ursprung nimmt die
"révolte" demnach im Individuum, um jedoch bald eine Bedeutung zu
entfalten, die die Grenzen des individuellen Bereichs weit überschreitet. Camus
lehrt also: Auf der Grundlage des "Je me révolte, donc nous sommes."
entsteht positive Gemeinschaft im Zeichen überindividueller Werte, jedoch mit
unabsehbaren Folgen. "Um zu sein, muß der Mensch revoltieren." (30) -
"Ich empöre mich, also sind wir." (31) - Man spüre dieses Bedürfnis
in sich, reflektiere aber auch seine Folgen.
Albert Camus als Begründer des ästhetischen Existenzialismus spricht damit
für die Absurdität der menschlichen Existenz - angesichts des Widerspruchs
zwischen der offensichtlichen Sinnlosigkeit des Lebens und der
Unausweichlichkeit des Todes. Am Ende aber ist sein Buch gerade deshalb ein
lebensbejahendes Plädoyer für die treue Erde, das kühne und nüchterne
Denken, die klare Tat und die Großzügigkeit des in geistiger Spannung lebenden
und wissenden Menschen. Also: Die Spannung als Lebensprinzip einer gesunden
Kraft der Weigerung, welche nicht im Dogmatismus verharrt, sondern in
progressiver geistiger Abstraktionsfähigkeit die eigene Unzulänglichkeit
benennt.
Fazit
"Der Bogen krümmt sich, das Holz stöhnt. Ist die höchste Spannung
erreicht, wird ein durchdringender Pfeil abschnellen, das härteste und freieste
Geschoß." (345)
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 03. Februar 2008 2008-02-03 11:56:47