Heute stehen Wirtschaftsstaat und Kulturstaat zunehmend in einem
komplementär-dienendem Verhältnis zu den anderen Dimensionen von Staat. An
institutionellen und terminologischen Vorkehrungen bezüglich dieser Entwicklung
mangelt es aber gravierend. Sie sind deshalb zunehmend im Sinne der Wahrung
einheimischer Primärkultur zu agieren gezwungen, weil sich im Zuge der
Belastung der Integrationsfähigkeit europäischer Demokratien stets jene
Staaten als integrationsfähiger erwiesen haben, die selbstbewußt auf eine
kraftvolle Kultur zurückblicken und von dort aus einen pluralistisch
definierten geistigen Wertekonsens neu ins gesellschaftliche Spiel einzubringen
begonnen haben. Doch wie definieren wir angesichts dieses hohen Anspruchs die
Kultur oder den Begriff "Kultur"?
In Dresden tagte im November 2007 das Internationale Gründungs-Symposium
"World Culture Forum". Auf diesem stellten sich die Teilnehmer dem
Anspruch, genau darüber Einigkeit herzustellen und zu klären, ob kulturelle
Vielfalt einen Teil der Deutungshoheit und Definitionsmacht von der Wirtschaft
zurückgewinnen kann. Damit zusammen hängt freilich auch die Frage, inwiefern
das Verkümmern der nicht ökonomisch verwertbaren Bestandteile der Kultur - man
denke an schließende Bibliotheken oder Museen - überhaupt noch aufzuhalten
ist. Für den Herbst 2008 ist ebenfalls in Dresden ein Hauptkongreß in Planung,
der als "Zusatzentwurf zum Weltwirtschaftsgipfel in Davos" konzipiert
wird.
Was den Kongreß des vergangenen Jahres 2007 anbetrifft, so rückt wesentlich
eine bedeutende Publikation in den Mittelpunkt des Interesses vieler Leser, die
hiermit vorliegt. Der Autor des Buches, welches parallel zum Kongreß erschien,
setzt die philosophische "Kunst der Begriffe" gegen die übliche
"Wolkenschieberei" mit Nebelworten, die selbst ein Hauptproblem der
derzeitigen tiefen Kulturkrise darstellt. Die konkret anstehenden Kulturfragen
(Clash of Civilizations, Religion und Kultur, Wirtschaftsdominanz, Migration,
Weltsprachensituation) werden darin in eine systemische Kulturtheorie
eingebettet. Das Faszinierende zeigt sich dem Leser schnell: Das Werk tritt mit
ganzheitlichem Problembewußtsein auf und verbindet konkrete diskussionsfähige
Vorschläge. Vor allem die Institution eines eigenen Kulturparlamentes kommt zur
Sprache.
Das Kulturparlament sollte - wie schon in anderen Schriften des Autors betont -
bundespolitische Grundwerte über eine Kulturgesetzgebung vorgeben, wobei die
Nation der kulturelle Aspekt für den Gesamtorganismus sei. Nation sei hier der
kulturelle Gesamtorganismus, der sich rechtlich und selbstbewußt als Staat
organisiere. Damit stellt Heinrichs die Bewahrung nationaler Kulturschätze und
die kollektive Anteilnahme an diesen heraus. Er fordert gar, daß auch
praktische Künstler gewählt werden müßten. Ein entsprechender Exkurs im Buch
(118ff.) beschreibt analog dazu die heutigen Probleme des Künstlers. Für
Heinrichs jedenfalls wird Kultur nicht nach `Links’ und ‚Rechts’
betrieben, sondern nach ganzheitlicher Vernunft und Liebe zum kulturellen Erbe -
auch und gerade in Deutschland. Es sei gar nicht an die viel beschworene
Postmoderne zu denken, bevor dies nicht zu Grundmaxime werde.
Damit stellt sich zugleich die Frage, ob denn die "westliche" Kultur
der Welt etwas zu bieten hat außer ihre Technik und die kapitalistische
Globalisierung? Gibt es die Möglichkeit fruchtbarer, nicht zerstörerischer
Begegnung zwischen westlicher "Moderne"? Ganz klar, daß hier vielen
Differenzierungen Rechnung getragen werden muß, die im vorliegenden Buch
wunderbar dargelegt werden. Heinrichs schlägt drei verschiedene Begriffe von
Kultur vor.
1) Einen weiten Kulturbegriff - sämtliche Hervorbringungen des Mensches, alles,
was überhaupt sozial vererbbar ist, auch die Wirtschaft.
2) In einer engeren Definition beschreibt der Philosoph Kultur als eine von vier
sozialen Subsystemen: Wirtschaft, Politik, Kultur im mittleren Sinne, das
heißt: die kommunikativen Sphären einer Gesellschaft.
3) Und schließlich das "Letztwertesystem", zu dem er Fragen der
Religion, Ethik etc. zählt. Mit dieser dritten Definition zielt er auf die
sogenannte "schöne Kultur", worunter ästhetische Ausdrücke und die
Kunst verstanden werden. Ihm selbst gehe es darum, daß gerade die
Differenzierung der Kultur von der Wirtschaft und der Politik sowie vor allem
der Religion eine Errungenschaft der Neuzeit sei.
Erst diese Unterscheidung also verleiht für Heinrichs der Kultur eine
unabhängige Position, von der aus sie in gesellschaftliche Prozesse eingreifen
könne und durch die sich eine Nation in ihrer Vielfalt in einem gemeinsamen
Kultur- und Traditionsbewußtsein identifizieren könne. Man mag mit seiner
Einschätzung, daß wir uns derzeit hingegen "in einer tiefen
Menschheitskrise befinden, vor allem was das Verhältnis Wirtschaft und Kultur
betrifft", nicht notwendig einverstanden sein, um dennoch zu erkennen, daß
gerade der Begriff "Kultur" einem immer stärkeren Erklärungszwang
und Legitimationsdruck ausgesetzt ist, als sei dies schon die drängende
Reaktion auf die Krise, zu der das Buch einen Ausweg anbietet. Das ökonomische
Denken und Handeln als entscheidender Erlebnisbereich des modernen Menschen
scheint sich hingegen krisenfrei zu etablieren.
Dennoch! - "Die Ökonomie als beherrschende Dimension einer Gesellschaft
kann den politischen und kulturellen Zusammenhalt eines demokratischen
Gemeinwesens weder allein noch als dominierende Kraft sichern." (Vorwort,
Biedenkopf, S. 12)
Kurt Biedenkopf stellt in seinem Vorwort entsprechend heraus: "Vollkommen
einig bin ich jedenfalls darin mit Prof. Heinrichs, daß diese Kongresse (das
World Culture Forum in Dresden) keine Honoratiorentreffen zum unverbindlichen
Austausch von Allgemeinplätzen und Höflichkeitsformeln bleiben dürfen."
(Ebd., S. 13) Im Vorfeld des Gründungs-Symposium hat der 65-Jährige Heinrichs
diesem Anspruch gemäß einen Essay vorgelegt, der nicht nur die Neudefinition
des Kulturbegriffs und seine Einbettung in eine umfassende
"Reflexions-Systemtheorie", sondern letztlich auch eine
gesellschaftliche Umstrukturierung in der bis dato - bereits angedeuteten -
"unvollendeten Moderne" vorsieht.
Dieses Buch ist das Manifest eines wegweisenden Vorhabens. - Das Ziel der
enthaltenen Überlegungen zur Kultur im Rahmen der Reflexions-Systemtheorie des
Autors ist eine "Systemtheoretische Differenzierung des
Kulturbegriffs". (63) "Kultur wird hier somit in einem spezifischen
Sinn die Ebene des Sozialen genannt, für welche die kommunikativen
Interaktionsformen kennzeichnend sind und dessen formelles Medium die von zu
Hause aus kommunikative Sprache darstellt." (63/64) Diese interessante
Dimension der systemischen Differenzierung von Kultur führt notwendig in
weiterer Reflexion beim Leser zu der Erkenntnis, daß es keinen "Kampf der
Kulturen" (Samuel P. Huntington) geben darf, sondern es eben erforderlich
ist, den Anspruch der Differenzierung auszugestalten. Tragisch ist dabei die
Erkenntnis, wie vielen gegenwärtigen Parteipolitikern es diesbezüglich an
philosophischer und damit politisch-praktischer Grundeinsicht mangelt.
Sprache und Sitten nämlich scheinen als Kern einer demokratischen
Kulturgemeinschaft auf, die nur als solche einem Europa kulturelle Pluralität
zu verleihen in der Lage ist. Und daß auf dem Wege dorthin bisher kaum Erfolge
zu verzeichnen sind, das führt Heinrichs auf wichtige Zusammenhänge zurück,
die zu benennen er kein Blatt vor den Mund nimmt: "Die derzeitige
Massenmedienlandschaft ist entweder wirtschaftlich oder parteipolitische und
konfessionelle nicht unabhängig. Letzteres gilt etwa für die Organe der
Bundesanstalt für politische Bildung (...), die durch langweilige
"Ausgewogenheit" aus dem Rahmen fallen und dadurch schon vor
Publikumswirksamkeit geschützt sind." (103) Ebenso fordert er - vor dem
Hintergrund seines Anspruchs erfreulich befreiend und völlig unproblematisch -
"Deutsche Kultur jetzt" (167), denn "Kultur findet hier und jetzt
statt, in den Sitten, Umgangsformen, Gebräuchen des Alltags. Der bei Weitem
wichtigste Brauch einer Kulturgemeinschaft ist ihr Sprachgebrauch, worin
zugleich der Übergang zu schönen Kultur (...) liegt. Das Hauptmedium der
kulturellen Vitalität einer Nation ist - eine vitale Sprache." (168) -
Fazit
Möge uns diese Erkenntnis selbstverständlich sein und zu individuellen
Konsequenzen im vitalen Gebrauch der eigenen Sprache führen - gerade in
Deutschland.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
[Profil]
veröffentlicht am 13. Januar 2008 2008-01-13 17:22:29