Mit dem vorliegenden Buch hat Arthur Schopenhauer (1788-1860) ein nahezu
unübertroffenes stilistisches Meisterwerk hinterlassen, welches als Kompendium
praktischer Philosophie auftritt. Ursprünglich ist das Buch das Kernstück des
ersten Bandes seiner "Parerga und Paralipomena" erschienen, d.h. der
"Nebenwerke und Nachträge", eine zweibändige Sammlung kurzer
Schriften sehr interessanten Inhalts, welche Schopenhauer im November 1851
veröffentlichte. In den vorliegenden "Aphorismen zur Lebensweisheit",
als brillantes Extrakt daraus, hat Schopenhauers philosophischer Stil seine
inhaltliche Vollendung erreicht. Sie spiegeln aber auch einen reifen Mann und
lebenserfahrenen Menschen wider, der auf der Grundlage seines weltanschaulichen
Pessimismus eine Lehre des glücklichen Lebens entwirft, die aufweist, wie man
in einer denkbar schlechten Welt angemessen leben kann ohne ihr zu entfliehen.
Dies kann womöglich nur jemand ableisten, der kurz davor stand, ihr zu
entfliehen, was für Schopenhauer zutraf, sich aber in philosophische Bahnen
kanalisierte.
Arthur Schopenhauer, der bereits in seinem 30. Lebensjahr, von der
Öffentlichkeit völlig ignoriert, sein Hauptwerk "Die Welt als Wille und
Vorstellung" publizierte, erntete erst gegen Ende seines Lebens den Ruhm,
den er sich ersehnte. Mit dem Werk "Parerga und Paralipomena" trat er
ein. Das macht das vorliegende Buch zu einem besonderen Stück deutscher
Literatur. Franco Volpi, Professor für Philosophie an der Universität in
Padua, als Herausgeber meint in seinem Vorwort selbst, es sei "Bestandteil
der deutschen Seele" (IX).
Schopenhauer entwirft hier eine Anweisung zum "glücklichen" Leben. Es
sind drei Elemente, die er analysiert:
1) Was Einer ist: Gesundheit, Kraft, Schönheit, Temperament, Intelligenz und
Ausbildung werden analysiert.
2) Was Einer hat: Eigentum und Besitz werden betrachtet.
3) Was Einer vorstellt: Als was einer gilt, was er in der Vorstellung Anderer
ist, wird näher beleuchtet, darunter Themen wie Ehre und Ruhm.
Der Autor präsentiert uns eine deutsche Philosophie für jedermann, präzise,
pointiert und sarkastisch. Wesentliche Erkenntnisse drängen sich bereits nach
Lektüre der ersten Seiten auf: Die Welt in der man lebt, hängt ab von der
Auffassung derselben (das gleichsam Kantische Erbe). Aus seiner Individualität
kann niemand heraus. Damit ist das Maß des möglichen Glückes bereits
vorbestimmt.
Zu Punkt 1) Was also einer an sich selber hat, ist für Schopenhauer das
wesentlichste zum Lebensglücke. Aus innerer Leerheit entspringt die Lust nach
Gesellschaft, Zerstreuung und Vergnügen. Vor diesem Elende bewahre nichts so
sicher als der innere Reichtum, der Reichtum des Geistes. Der geistreiche Mensch
suche nach Schmerzlosigkeit im möglichst unangefochtenen Leben der Einsamkeit.
Zu Punkt 2) Vorhandenes Vermögen soll man für Schopenhauer - eigentlich nur
konsequent - betrachten als "Schutzmauer gegen die vielen möglichen
Übel".
Zu Punkt 3) Viel zu viel Wert auf die Meinung anderer zu legen sei ein allgemein
herrschender Irrwahn. Der Mensch habe es mit einer natürlich angeborenen
Verkehrtheit zu tun. Ehre ist für Schopenhauer, objektiv, die Meinung anderer
von unserem Wert, und, subjektiv, unsere Furcht vor dieser Meinung. Einige Leute
seien berühmt und andere verdienten es zu sein. Das Beste aber was jeder ist,
müsse er notwendig für sich selbst sein. Durch nichts entziehen wir uns so
sehr dem Zwange von außen, als durch Selbstzwang. (Si tibi vis omnia subjicere,
te subjice rationi.)
Angesichts derartiger Tiefsinnigkeit verwundert es nicht, daß einem solchen
Buche der unerwartete Publikumserfolg endlich sicher ward. Das Buch ist jener
Pfad, welcher dem Punkte der Überwindung des Spätidealismus und der Epoche
Hegels zuführt, unter der Schopenhauer selbst noch vermittels ihrer Ignoranz
gegenüber seiner Person, litt. Die Lebendigkeit der Darstellung und ihre
polemische Schärfe übten einen ungeheuren Einfluß auf spätere
Schriftstellergenarationen aus. Ernst Jünger, Thomas Mann, Philipp Mainländer,
Gottfried Benn, Siegmund Freud, Ludwig Wittgenstein, Robert Musil oder Rolf
Schilling. Schopenhauers metaphysische Urenergie des Willens, vermittels derer
das Leben als Privation, Not, Bedürfnis, Kummer und Sorge, Streben,
Frustration, Schmerz und Pein erscheint, weiß, daß selbst das Ziel der Ruhe im
erlangten Zustand Langeweile und Sattheit sowie Überdruß am Sein mit sich
führt. Das Leben, wie man es auch dreht und wendet, bleibt also die Leere und
Nichtigkeit, deren Empfinden in Schopenhauers Seelenhaushalt das vorliegende
Buch heranreifen ließ. Es ist ein Lichtblick innerhalb einer Perspektive,
wonach die sichere Niederlage für alle ohne Ausnahme am Ende steht - der Tod.
Er, und nur er allein, wird, in einer Zeit, in der sich jeder gern
oberflächlich als Demokrat proklamiert, zum einzigen Demokraten, denn er trifft
alle gleich.
Die vorliegende praktische Philosophie entstand auch infolge der Entdeckung
Baltasar Granciáns "Handorakel der Weltklugheit" durch Schopenhauer,
welches er in Abgeschiedenheit nach seinem Wegzug vom Berlin Hegels als
tröstliche Lektüre ins Deutsche übersetzte. - Aus desillusioniertem
Pessimismus wird nunmehr tendenziell eine am eigenen Leib erfahrene
Individualethik. Ihr entwächst eine Lebensbewältigungspraxis ungeheuren Maßes
und tiefsinnigen Schwergewichts. Die vorliegenden Aphorismen sind das krönende
und abschließende Lächeln seiner sich selbst antrainierten Lässigkeit infolge
des Durchschauthabens der Lebenswelt und ihres Ganges. Asketische
Daseinsverneinung wird zur gelebten Maxime des stoischen Ausharrens und
punktuellen Genießens.
Dieser Sachverhalt und die Tatsache, daß die vorliegende Ausgabe völlig neu
ediert wurde sowie im Gewandt eines erweiterten Anmerkungsapparat zu
Schopenhauers brillant gewählten Wahlsprüchen und fremdsprachlichen Zitaten
auftritt, sollten Grund genug sein, dieses Buch zu besitzen. Die enthaltenen
Aphorismen gehören zum Verlag Kröner ebenso dazu, wie das mürrische Gesicht
Schopenhauers zu einem jeden Foto von ihm. Damit steht vorliegendes Buch in
vorzüglicher Tradition, wurde es doch im Gründungsjahr des Kröner-Verlages
1904 zugleich mit als eines der ersten Bücher veröffentlicht. Es rückt den
Denker asketischer Daseinsverneinung und stoischen Ausharrens gegen eine
Übermacht von Plagen in den Mittelpunkt. Damit bietet es die "abgezogene
praktische Nutzanwendung seiner Philosophie für jedermann, sogar für solche,
die Schopenhauers Philosophie ablehnen." (Walter Schneider, Schopenhauer.
Eine Biographie, 1937, S. 315).
Fazit
Keine Frage, daß dieses Werk auch für fachfremde Leser offen steht. Es ruft
ihnen zu: "Alle menschlichen Angelegenheiten unterliegen dem Zufall und
Irrtum. Nehmt die gute Stimmung wahr, denn sie kommt so selten."
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 12. Januar 2008 2008-01-12 15:29:39