Inga arbeitet als Schreibkraft bei den Tommies. Kurz nach Ende des Zweiten
Weltkriegs ernährt sie mit ihrer Stelle als Zivilangestellte der britischen
Besatzungsarmee in Schleswig-Holstein sich und ihre Eltern. Ingas Arbeitsplatz
liegt abgetrennt vom Alltagsleben der deutschen Nachbarn sorgfältig bewacht auf
britischem Territorium, das alle Zivilangestellten jeden Tag nach Feierabend
wieder verlassen. Zum Kasernengelände gehören ein Flugplatz und ein Lazarett.
Patient des Lazaretts ist der schottische Offizier Alec Hayden, durch den Inga
Zugang zu einer eingeschworenen Spielertruppe findet. Die Teilnehmer der Runde
scheinen Inga schon beim ersten Zusammentreffen als Spielerin gewittert zu
haben. Der junge Offizier, die deutsche Bürokraft und die
"Generalin", wohlhabende Witwe eines zum Tode verurteilten Generals
der Wehrmacht, treffen sich nun regelmäßig zum nächtlichen Zocken. Bald
braucht Inga Geld zum Spielen und versetzt die letzten Wertgegenstände ihrer
Familie. Werte, die man in der Nachkriegszeit auf dem Schwarzmarkt gegen ein
Stück Seife, Medikamente oder ein dringend benötigtes Paar Schuhe hätte
tauschen können.
Michael Wallner siedelt seine Biographie einer Spielerin im von der britischen
Armee besetzten Schleswig-Holstein an. Der noch junge Frieden hat den Bewohnern
längst keine Normalität und erst recht keine Sicherheit vermitteln können.
Die britische Armee wird von vielen als Besatzungsmacht und nicht als Befreier
von der Hitlerdiktatur erlebt. Henning, mit dem Inga eine Zeit lang eine Affäre
hatte, ist Inhaber einer kleinen Firma, deren wirtschaftliches Überleben vom
Wohlwollen der britischen Behörden abhängt. Einige der jungen britischen
Soldaten füllen ihre Rolle als Angehörige einer Besatzungsarmee mit wenig
Überzeugung aus. In der Zockerrunde treffen Sieger, Besiegte und
"Schieber" aufeinander. In beinahe obszönem Kontrast stehen Ingas
harmloses Leben als Schreibkraft, ihr nächtliches Zocken und ihre skrupellose
Schieberei, um an Geld zu gelangen. Knappe Hinweise informieren über die
Vergangenheit von Ingas Vater Erik, der in der Nazizeit Reichsbahn-Angehöriger
war. Ebenso knapp werden die kurz bevorstehende Währungsreform und die geplante
Verringerung der britischen Truppen in Norddeutschland angedeutet. Einen
auffälligen Kontrast bilden Wallners altertümlich klingende Schweizer Diktion
und die Umgangssprache im Land zwischen den Meeren.
Fazit
"Zwischen den Gezeiten" ist das spannend zu lesende Portrait einer
jungen Frau auf der Suche nach Orientierung und nach ihrem persönlichem Glück
und zugleich ein sorgfältig gezeichnetes Sittengemälde der deutschen
Nachkriegszeit.
Vorgeschlagen von Helga Buss
[Profil]
veröffentlicht am 28. Dezember 2007 2007-12-28 11:46:03