Oswald Spengler (1880-1936) war besonders sensibel für soziale und kulturelle
Entwicklungen in Deutschland. Sein Kulturpessimismus umschließt die Dekadenz
und das Spätzeitbewusstsein seiner Zeit, die gespannte Beziehung zwischen
Geist, Macht und Modernitätskrise. Es ist bezeichnend, daß seine
Lebensphilosophie völlig außerhalb der professionellen Wissenschaft entstand,
sich von den Schalthebeln der Macht abkehrte, um sich einer verdeckten Stellung
im vorpolitischen Einflussgefüge zuzuwenden. Spenglers Enttäuschungen kehrten
sich gegen die Kultur und deren offizielle Repräsentanten. Ursache dessen war
die Zwiespältigkeit des Lebens in einer Übergangszeit der parallelen
Erneuerung von Kunst und Kultur. Man kann von Innerlichkeitskult sprechen oder
von einem inneren Egotismus, wie ihn der französische Philosoph Stendhal
prägte.
Spenglers eigene Tragödie als Mensch, als Einsamer und Fremdling ist ein
Phänomen seiner Zeit. Lange waren schriftliche und zugängliche Quellen
diesbezüglich kaum vorhanden oder nur über Umwege findbar. Sie erforderten den
Besuch des Spengler-Archivs in München, dessen viele Manuskripte Spenglers
erster Biograph Anton Mirko Koktanek für seine einmalige Biographie
"Oswald Spengler in seiner Zeit" (1968) studierte und zitierte. Dort
stößt man auch begeistert auf die bisher noch unbekannten Fragmente namens
"Eis-heauton", die uns Koktanek in Permanenz als
"Bekenntnisse" Spenglers präsentiert, welche der Leser selbst aber
bisher nicht nachprüfen konnte. (Vgl. ebd., S. XXIV) Diese Aufzeichnungen
treten bei Koktanek unter "EH - Eis heauton, inedited" - also
unveröffentlicht - auf.
Deshalb kommt es einer Sensation gleich, diese autobiographischen Aufzeichnungen
in Buchform nunmehr vor sich liegen zu haben. Spenglers Schwester ordnete diesen
Nachlaß - gewissenhafter als ihr Nietzsche-Äquivalent - und übertrug ihn mit
einer Schreibmaschine. Es handelt sich dabei um genau jene "Eis
heauton"-Notizen, die zwischen 1913-1919, den Jahren vor dem großen Ruhm
Spenglers, aufgeschrieben wurden. Hier also haben wir im Lilienfeld-Verlag die
vollständige Ausgabe der originalen Transkriptionsfassung von Spenglers
"Eis-heauton"-Fragmenten vorliegen. Man muß nicht mehr ins Münchner
Spengler-Archiv reisen. "Eis heauton" - "An sich selbst" -
ist mit seinen transkribierten 145 einzelnen handschriftlichen Aufzeichnungen
damit erstmals als Buch publiziert. Spengler knüpft an Mark Aurel zwölf im
Zeltlager an der Donau geschriebenen Bücher an, welche damals bereits Aurels
gleichnamige Selbstbetrachtungen "eis heauton" beinhalteten. Aurels
Grundgedanke war: Der Herrscher (Kaiser) ist der Diener der Menschheit. Er ist
von göttlicher Weltvernunft berufen und setzt seine sittliche und geistige
Überlegenheit für das Allgemeinwohl ein.
Und wahrlich, so persönlich aber auch geistig überlegen und
"deutungsgewaltig" (Botho Strauß) wie nie zuvor tritt dem Leser
Spengler im vorliegenden Buch gegenüber. Diese autobiographische Fragmente
stellen ein synthetisches Kompendium von individueller Psychologie und
konservativer Kulturkritik in Konsequenz und Schärfe dar. Spengler richtet sich
gegen Massenmedien, Barbarei, einwandernde Proletarier, Finanzkapital,
Umweltzerstörung und Technik. Zugleich trifft man aber auf einen
verunsicherten, furchtsamen und bindungsunfähigen Mann, dessen Urgefühl die
Angst ist und der seit seiner Kindheit geprägt wurde von einem strengen und
verständnislosen Vater: "...gehetzt, gepeinigt von einer unbestimmten
grenzenlosen Angst, (...), wie ein verirrtes Stück Bewußtsein in einer fremden
unendlichen Welt." (35) Interessant ist, wie Spengler seine Angst an vielen
Stellen gewissermaßen redundant seinem Leser vorträgt: "Angst, eine
Wohnung zu mieten, einen Brief zu öffnen, einen Laden zu betreten. Angst vor
Weibern - sobald sie sich ausziehen."
Spengler erscheint hier nicht als der gnadenlose und selbstbewußte Philosoph
des Untergangs. Vielmehr offenbart er die individualpsychologischen Motive
seiner spezifischen Philosophie: "Immer wieder das Gefühl, minderwertig zu
sein." (14) "Ekel vor allem, was ich gemacht habe, vor mir selbst, vor
meiner Unfähigkeit." (25) Selbstzweifel und Selbsterhebung sind hier also
dicht beieinander. Auf den ersten Blick scheinen sich auch Anmaßung und
Überheblichkeit in diesen Texten die Hand zu reichen. Bei genauer Lektüre
aber und vorausgesetzter ernsthafter Kenntnis des kompletten Hauptwerkes
"Der Untergang des Abendlandes" (1918/1922) erscheinen die
vorliegenden Fragmente nicht als Partitur von unterschiedlichen Seufzern und
Klagelauten, wie moniert wurde, sondern vielmehr als das ernstzunehmende
subjektive Phänomen eines Menschen in seiner Zeit, das über einen einmaligen
Weitblick verfügte und sich dessen in tragischer Selbstreflexion auch bewußt
war: "Dieser Blick ist die eigentlich philosophische Gabe. Philosophische
Fachwissenschaft ist philosophischer Unsinn." (11)
Der aufrechte und Spenglers Schriften wirklich kennende Leser bemerkt nun auch
sofort, womit er es wirklich zu tun hat: Vorliegende Fragmente bilden den
psychischen Hintergrund Spenglers als Lehrer des heroischen Realismus, der
zugleich gepeinigt von Angst und Ekel eine zutiefst subjektive Philosophie
schuf. Mehr noch, es gibt sogar im "Untergang des Abendlandes" direkt
präsente Versatzstücke von Spenglers emotioneller Lage, so wenn in diesem
Hauptwerk von "Weltangst" und "Weltsehnsucht" als Urgefühle
einer jeden Kultur die Rede ist. Und sind wir ehrlich, so ist jedes menschliche
Werk Destillation subjektiver Motivationen und Eindrücke, auf deren Ebene man
ihm begegnen sollte. Eine solche Haltung setzt sich dann wohltuend von jener
über Spenglers "Wikipedia"-Eintrag referierenden Haltung des
Journalisten-Laien ab, der meistens sich als feiner "Kritiker"
hervortun möchte, bis auf den Titel das Buch Spenglers aber niemals in Gänze
las.
Dennoch führt nichts an den Fakten vorbei: Wir haben Fragmente eines geistigen
Machtmenschen vorliegen, der aus Schwächen besteht, aus Ekel und Phobien,
Gegenwartsverachtung und Menschenscheu, Verzagtheit und Wirklichkeitsflucht:
"Die Einsamkeit in meiner Zeit, dieser ekelerregenden Zeit, hat das Opfer
verlangt." (66) "Wie leide ich an allem Schlechten meiner Zeit."
(70) "Ich habe oft, wenn ich tagelang mit niemand gesprochen habe, oder
wenn die Kopfschmerzen kommen, das Gefühl, daß nur noch ein kleiner Ruck am
Irrsinn fehlt." (72) Anderseits trifft man aber auch auf energische
Sentenzen der Hoffnung: "Ich habe schon als Kind immer die Idee in mir
getragen, ich müsste eine Art Messias werden. Eine neue Sonnenreligion stiften,
ein neues Weltreich, ein Zauberland, ein neues Deutschland, eine neue
Weltanschauung. Das war zu 9/10 der Inhalt meiner Träume." (78)
Spengler gelingt es immer wieder, seine tragische Größe in Szene zu setzen,
Zerrissenheit und zielstrebige Einheit zu synthetisieren und damit die eigenen
Symptome als zu lösende Symptome der Krise seiner Zeit zu verstehen, an denen
man stets auch zu zerbrechen droht. Davon zeugt auch das einzige überlieferte
Gedicht Spenglers (52), welches sich im vorliegenden Buch befindet. Das
Zusammenspiel von Selbstverachtung und Selbsterhebung, der Prozeß des
Aufrichtens eines immer wieder aus subjektivem Verhängnis selbst zu Boden
Stürzenden - dies sind die Kernelemente von Spenglers autobiographischen
Fragmenten. Verstoßenheit und Angst werden zum Zeichen der Auserlesenheit gegen
die geistlose weil (offenbar) nicht leidende Mediokrität der Zeit, gegen das
"Literatengeschmeiß". Interessant dabei ist, daß bereits der
Geschichtswissenschaftler Ernst Nolte die Angst als Urgefühl zur
Jahrhundertwende und in Zeiten des Faschismus, beispielsweise bei Charles
Maurras, ausmachte. (Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche, München,
1963)
Spengler hat mit seinem Körper alle Schmerzen, alle Leiden und Leidenschaften
der Geschichte nachvollzogen, was man ihm am Ende auch rein physiognomisch
ansah. Auch davon zeugen die vorliegenden Notizen. Sein Leiden war der Spiegel
seiner Zeit, an dessen Mittelmäßigkeit und Oberflächlichkeit er zerbrach -
das bekannte Phänomen Hölderlins also nur einige Jahrzehnte später. Stets
dominiert bei Spengler deshalb entgegen einer in konstruierten Grenzen
verharrenden Fachphilosophie, die den tausendsten Sekundärband zu Kant
veröffentlicht, bei Spengler der große eigene Entwurf, der die Welt in
wesenhaften Zügen erkennt. Spenglers Rezeption der Gegenwart spricht gerade
für die vielschichtige Aktualität seines Denkens in aller Welt: Wird er in
Asien aus der Perspektive einer Relativierung der Dominanz des Abendlandes
gelesen oder in USA als Pragmatiker eines außenpolitischen Realismus (Samuel
Huntington/ Zbigniew Brzezinski), so liest ihn Südamerika als Vertreter eines
autoritär-sozialistischen Modernisierungsweges. Rußland freilich erkennt in
Spengler den Propheten einer neuen vitalen russischen Kultur, die der Prophet
des Untergangs in der Tat voraussagte.
Das Nachwort von Gilbert Merlio, Autor der Spengler-Monographie "Oswald
Spengler - Témoin de son temps" (1982), ist dabei sehr erhellend. Es
verdeutlicht die charakterliche Struktur Spenglers anhand seines Werkes und
seiner Zeit. Merlio liefert abschließend ein treffliches Stichwort zur
methodischen Bezeichnung von Spenglers Tagebucheinträgen. Die "Doppelte
Vexation" sei der bezeichnende Terminus für deren Grundcharakter.
Treffender ließe sich nicht bilanzieren, denn gemeint ist damit das wohl im
charakterlichen Durchschnitt der Gegenwart kaum noch findbare Phänomen,
geistiger, optimistischer, kämpfender Imperialist und Pragmatiker zu sein, der
zugleich sensibler, leidender und sein Leiden gezielt sublimierender
Kulturpessimist ist.
Fazit
"Ich bin nie zufrieden gewesen mit dem, was ich geschrieben habe." (9)
- So dachte Spengler über sich. Der Leser seiner fragmentarischen
Autobiographie kann angesichts wesentlicher Erkenntnisse hinsichtlich der
Verflechtung von Kulturpessimismus und pangermanischem Machtoptimismus mit
diesem Buch zufrieden sein. Er läßt damit lediglich einem leidenden
Schriftsteller, wie es sie auch heute immer wieder gibt, Gerechtigkeit
widerfahren.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 18. Dezember 2007 2007-12-18 10:01:52