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Till Kinzel: Michael Oakeshott. Philosoph der Politik

Michael Oakeshott. Philosoph der Politik

von Till Kinzel
Verlag: Edition Antaios [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Philosophie
ISBN-13 978-3-935063-09-8

Preis: aktuell keine Daten vorhanden
Der Begriff "Demokratie" verbindet sich heute allzu leicht mit dem Ziel, unermesslichen Wohlstand und grenzenlose Selbstentfaltung des Einzelnen als Kernaufgabe der Politik zu betrachten. Man könnte diesen nachkriegsdemokratischen "Grundkonsens" in Deutschland und Westeuropa deshalb immer auch dann als bedroht und unrealistisch betrachten, wenn das angemessene Verhältnis zwischen individueller Selbstbestimmung des Menschen und allgemeiner Wohlfahrt einer Gesellschaft als Ganzes nicht mehr ausgeglichen ist.

Und so verwundert es nicht, wenn parteiliche Gruppenstruktur und einseitige Gesinnungen zum jeweils allein als richtig betrachteten Maßstab einzelner Politiker werden, die damit kaum merken, daß sie das umfassende und allseits kritische und skeptische Denken als eigentliche, ja philosophische Grundlage der Politik verlernt haben. Der politische Philosoph ist hingegen der Überzeugung, keine parteiliche Einbindung über sich ergehen lassen zu müssen, um das Wesen einer Sache zu ergründen und eine annähernde Austarierung von Interessen zu erzielen. Er verzichtet damit auf den tagespolitischen Nutzen von Macht, Stimme und Mehrheit.

Wohl kein anderer als der britische Philosoph Michael Oakeshott (1901-1990) hat deshalb so sehr bewiesen, daß jener vermeintlich für immer Wohlstand verbürgender Grundkonsens so genannter "westlicher Demokratien" eine destruktive Grundhaltung in sich birgt, die durch ein Mehr an Skepsis hinsichtlich dessen, was mit politischen Mitteln bewirkt werden kann, ausgeglichen werden müsse. In der deutschen Literatur sind die Schriften Oakeshotts leider schwer zu finden. Umso begrüßenswerter ist es nunmehr, daß mit dem Band 9 der Reihe Perspektiven beim Verlag Edition Antaios ein erster einführender Band zu diesem Philosophen vorliegt, der immer schon vor der schrankenlosen sich selbst überschätzenden Regierung warnte und sich dabei ausdrücklich positiv auf die traditionelle politische Philosophie Deutschlands bezog. Dies kann man ja von den meisten britischen Philosophen nicht sagen (Stichwort John Dewey). Freilich, seine Warnung kommt im deutschen Sprachraum recht spät, aber das vorliegende Buch ist damit umso überfälliger.

Oakeshott steht in seinem Denken - so betont der Autor Till Kinzel - allen Bestrebungen fern, die darauf abzielen, eine politische Korrektheit durchzusetzen oder mit ihr gewisse Fragen krampfhaft mit dem Hammer lösen zu können. Auch der scheinliberalen Einhegung des politischen Diskurses durch Gesinnungswächter und den von ihnen alimentierten Denunzianten stand er zutiefst skeptisch gegenüber. Gleichzeitig manifestiert er damit die wichtige Rolle, die dem politischen Philosophen und seiner Wissenschaft zukomme. Dieser nämlich besitze mehr und bedeutsameres als nur Meinungen, die sich auf Tagesfragen beziehen. Er verfüge jenseits jeglicher Korrumpierbarkeit über die hintergründige Analyse des politischen Handelns, über eine umfassendere Sicht, über eine gleichsam "ostentative Unaufgeregtheit" (10).

Diese steht in der Tat der heute in der Politik längst üblich gewordenen Hysterie mit ihrem Kult der Wut und Trauer gegenüber und setzt ihr eine Moral der Höflichkeit entgegen. Diese speist sich aus Nüchternheit und Skepsis. Kinzel versäumt es dabei nicht zu verdeutlichen, daß dies gerade die elementaren charakterlichen Versatzstücke eines konservativen aber auch dezidiert philosophischen und damit parteilich unabhängigen Menschen sind. Zugleich erhellt sich damit, daß es sich bei Oakeshott eben nicht um eine banale Spielart des britischen Commonsense-Konservatismus handelt und er wohl auch in Deutschland nicht als herkömmlicher Konservativer gesehen werden darf.

Es ist die "Politik der Zuversicht", wie Oakeshott sie nennt, die das Gerüst der politischen Moderne bildet und entgegen seiner denkenden Nüchternheit an grenzenloses Wachstum und Problemlösungspotential glaube. Vor allem aber steht mit diesem Buch Oakeshotts wieder aktuelle Grundthese im Raum, daß politische Philosophie eben nicht dazu da sei, die Vorgaben von Parteien zu erfüllen, deren Programme auszuarbeiten oder - sinngemäß - in Kooperation mit der "Bundeszentrale für politische Bildung" der volkspädagogischen Bürgereinlullung zuzuarbeiten. Vielmehr ist politische Philosophie der Aufruf, selbst zu denken, sich auf die Frage nach den wirklichen und nicht medial inszenierten Gefährdungen politischer Ordnung zu konzentrieren um zu verdeutlichen, daß es philosophisch nicht opportun ist, aus dem politischen Gegner als Andersdenkenden plötzlich den "Feind" zu machen oder den politischen Gegner in seinem Reflexionsprozess jenseits irgendwelcher Tabus plötzlich als "verwirrt" abzutun. Soll ja schon mal vorgekommen sein. - Alles viel zu naiv und unaufrichtig, würde Oakeshott sagen. Er nämlich würde heute gewiss zustimmen, wenn wir beherzigen, daß hingegen die reflektierte Skepsis des Konservativen folgendes verlangt: Den Blick für die Situation, für sanfte, aber rechtzeitige Anpassungen der äußeren Ordnung an gesellschaftliche und geistige Veränderungen.

Es handelt sich für Oakeshott wohlgemerkt nicht um eine bestimmte politische Position oder Richtung, sondern um einen inhaltlich offenen Stil politischen Denkens und Handelns. Er prangert deshalb zu Recht die Begierde an, regieren zu wollen oder jedes Parteiprogramm im Hinblick auf potentielle Wählerstimmen in der Sprache der absoluten Zuversicht abzufassen. Im Gegenteil. Er fordert das Lebensrecht der von ihm beschriebenen politischen Philosophie ein und stellt damit ein britisches Äquivalent zum deutschen Politikwissenschaftler und Initiator einer deutschen "Philosophie der Selbstbehauptung" (zuletzt 2007) Bernard Willms dar. Beide nämlich warnten davor zu ignorieren, daß Leben immer Negation bedeuten kann, entgegen menschlicher Zuversicht verlaufen kann und geistiger Selbstbehauptung bedarf.

Es geht bei Oakeshott also um eine politische Skepsis gepaart mit denkender Tatkraft. Die Lebensführung des Menschen erfordere es damit auch nicht wie mit Marx (10. Feuerbachthese), die Welt zu verändern. Vielmehr sei es - eben viel bescheidener - nötig, allein unser eigenes Verständnis der Welt, unsere Auffassungen zu verändern und zu hinterfragen. Dabei ist dem Philosophen alles Wissen ohne Tabus bedeutsam. Es gibt keine strategische oder ideologische Ausgrenzung von Fakten oder Begriffen, sondern es wird integral gedacht und erwägt. Philosophie ist nach Oakeshott die Erfahrung selbst, die der Betrachtung der Modi menschlicher Seinsweisen offen steht, d.h. konkrete Situationen und nicht durch Bedürfnisse und Gesinnungen reduzierte Halbwahrheiten betrachtet. Oakeshott selbst lebte auch nach seinen Maximen: Er befreite sich gleichsam in der Manier eines Dandys von jedem praktischen Interesse und vertrat eine Wissenschaft jenseits staatlich alimentierter Profit- und Prestigemaximierung, jenseits medial abverlangten Begriffschrotts.

Kinzel malt das Bild eines Philosophen, der "Ja" sagt zur Welt, wie wir sie vorfinden und sich nicht der Hybris einer vermeintlichen Abschaffung aller Übel preisgibt. Das Leben ist ein Dilemma und als Aufgabe soll es dies auch bleiben. Jegliche politische Absicht und parteipolitische Beeinflussung beinhaltet schon immer eine gefährliche Reduzierung, eine Vereinfachung des Lebens als komplexes Geschehen. Damit bleibt Politik als Tagesgeschäft notwendig mittelmäßig und defizitär, weswegen der politische Philosoph seinen eigenen Weg gehen muß. Philosophie ist aber gerade deshalb keine weltentfremdete Flucht vor der Realität, sondern die realistische Instandsetzung des Konkreten. Kinzel meint: "Der Idealismus, wie ihn Oakeshott versteht, wie ihn aber auch die deutsche philosophische Tradition verstanden hat, ist deshalb eine Form des konkreten Denkens." (66)

Vortrefflich ergibt sich bei aufmerksamer Lektüre anhand der Philosophie Oakeshotts ein Bild, das aufzeigt, wie es möglich ist, philosophisch konservativ zu sein und trotzdem ganzheitlich zu denken, Hegel zu mögen, in die Zukunft zu denken und trotzdem eine auf das Hier und Jetzt bezogene Haltung an den Tag zu legen. Hilfreich ist dabei auch, daß abschließend die Elemente eines modernen Konservatismus beschrieben werden: Das Vertraute dem Unbekannten vorziehen, das Gegenwärtige dem Möglichen, das Ausreichende dem Überflüssigen. Zugleich aber betrachtet der Konservative als bescheidener Mensch nach Oakeshott den Glauben an die Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen als Flucht vor der Komplexität. Er setzt ihr eine Skepsis entgegen, die sich gerade aufgrund ihrer Bescheidenheit für keine Macht einspannen läßt.

In Zeiten der politischen Machtkonzentration, des Verschwindens vermittelnder Gewalten, des Ausbaus eines weit verzweigten Exekutiv-Apparates mitsamt seiner Ministerialbürokratie, der Nutzung neuester Techniken zur Kontrolle und Überwachung sowie in Zeiten ausgeprägten medialen Stumpfsinns sollte eine "Politik der Skepsis" und die "kluge Bescheidenheit" ein wichtiges Projekt des deutschen Konservativen bleiben, denn: "Alles Leben ist notwendigerweise unvollkommen; es ist voller Möglichkeiten, doch karg an Gewissheiten." (Oakeshott)
Fazit
Auch zehn Jahre nach seinem Tod bietet das vorliegende Buch über Michael Oakeshott eine geeignete Einführung mitsamt zahlreicher Anstöße und Bezüge zur Gegenwart.
10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne10 Sterne
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Vorgeschlagen von Daniel Bigalke [Profil]
veröffentlicht am 14. Dezember 2007

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