Der Begriff "Demokratie" verbindet sich heute allzu leicht mit dem
Ziel, unermesslichen Wohlstand und grenzenlose Selbstentfaltung des Einzelnen
als Kernaufgabe der Politik zu betrachten. Man könnte diesen
nachkriegsdemokratischen "Grundkonsens" in Deutschland und Westeuropa
deshalb immer auch dann als bedroht und unrealistisch betrachten, wenn das
angemessene Verhältnis zwischen individueller Selbstbestimmung des Menschen und
allgemeiner Wohlfahrt einer Gesellschaft als Ganzes nicht mehr ausgeglichen ist.
Und so verwundert es nicht, wenn parteiliche Gruppenstruktur und einseitige
Gesinnungen zum jeweils allein als richtig betrachteten Maßstab einzelner
Politiker werden, die damit kaum merken, daß sie das umfassende und allseits
kritische und skeptische Denken als eigentliche, ja philosophische Grundlage der
Politik verlernt haben. Der politische Philosoph ist hingegen der Überzeugung,
keine parteiliche Einbindung über sich ergehen lassen zu müssen, um das Wesen
einer Sache zu ergründen und eine annähernde Austarierung von Interessen zu
erzielen. Er verzichtet damit auf den tagespolitischen Nutzen von Macht, Stimme
und Mehrheit.
Wohl kein anderer als der britische Philosoph Michael Oakeshott (1901-1990) hat
deshalb so sehr bewiesen, daß jener vermeintlich für immer Wohlstand
verbürgender Grundkonsens so genannter "westlicher Demokratien" eine
destruktive Grundhaltung in sich birgt, die durch ein Mehr an Skepsis
hinsichtlich dessen, was mit politischen Mitteln bewirkt werden kann,
ausgeglichen werden müsse. In der deutschen Literatur sind die Schriften
Oakeshotts leider schwer zu finden. Umso begrüßenswerter ist es nunmehr, daß
mit dem Band 9 der Reihe Perspektiven beim Verlag Edition Antaios ein erster
einführender Band zu diesem Philosophen vorliegt, der immer schon vor der
schrankenlosen sich selbst überschätzenden Regierung warnte und sich dabei
ausdrücklich positiv auf die traditionelle politische Philosophie Deutschlands
bezog. Dies kann man ja von den meisten britischen Philosophen nicht sagen
(Stichwort John Dewey). Freilich, seine Warnung kommt im deutschen Sprachraum
recht spät, aber das vorliegende Buch ist damit umso überfälliger.
Oakeshott steht in seinem Denken - so betont der Autor Till Kinzel - allen
Bestrebungen fern, die darauf abzielen, eine politische Korrektheit
durchzusetzen oder mit ihr gewisse Fragen krampfhaft mit dem Hammer lösen zu
können. Auch der scheinliberalen Einhegung des politischen Diskurses durch
Gesinnungswächter und den von ihnen alimentierten Denunzianten stand er
zutiefst skeptisch gegenüber. Gleichzeitig manifestiert er damit die wichtige
Rolle, die dem politischen Philosophen und seiner Wissenschaft zukomme. Dieser
nämlich besitze mehr und bedeutsameres als nur Meinungen, die sich auf
Tagesfragen beziehen. Er verfüge jenseits jeglicher Korrumpierbarkeit über die
hintergründige Analyse des politischen Handelns, über eine umfassendere Sicht,
über eine gleichsam "ostentative Unaufgeregtheit" (10).
Diese steht in der Tat der heute in der Politik längst üblich gewordenen
Hysterie mit ihrem Kult der Wut und Trauer gegenüber und setzt ihr eine Moral
der Höflichkeit entgegen. Diese speist sich aus Nüchternheit und Skepsis.
Kinzel versäumt es dabei nicht zu verdeutlichen, daß dies gerade die
elementaren charakterlichen Versatzstücke eines konservativen aber auch
dezidiert philosophischen und damit parteilich unabhängigen Menschen sind.
Zugleich erhellt sich damit, daß es sich bei Oakeshott eben nicht um eine
banale Spielart des britischen Commonsense-Konservatismus handelt und er wohl
auch in Deutschland nicht als herkömmlicher Konservativer gesehen werden darf.
Es ist die "Politik der Zuversicht", wie Oakeshott sie nennt, die das
Gerüst der politischen Moderne bildet und entgegen seiner denkenden
Nüchternheit an grenzenloses Wachstum und Problemlösungspotential glaube. Vor
allem aber steht mit diesem Buch Oakeshotts wieder aktuelle Grundthese im Raum,
daß politische Philosophie eben nicht dazu da sei, die Vorgaben von Parteien zu
erfüllen, deren Programme auszuarbeiten oder - sinngemäß - in Kooperation mit
der "Bundeszentrale für politische Bildung" der volkspädagogischen
Bürgereinlullung zuzuarbeiten. Vielmehr ist politische Philosophie der Aufruf,
selbst zu denken, sich auf die Frage nach den wirklichen und nicht medial
inszenierten Gefährdungen politischer Ordnung zu konzentrieren um zu
verdeutlichen, daß es philosophisch nicht opportun ist, aus dem politischen
Gegner als Andersdenkenden plötzlich den "Feind" zu machen oder den
politischen Gegner in seinem Reflexionsprozess jenseits irgendwelcher Tabus
plötzlich als "verwirrt" abzutun. Soll ja schon mal vorgekommen sein.
- Alles viel zu naiv und unaufrichtig, würde Oakeshott sagen. Er nämlich
würde heute gewiss zustimmen, wenn wir beherzigen, daß hingegen die
reflektierte Skepsis des Konservativen folgendes verlangt: Den Blick für die
Situation, für sanfte, aber rechtzeitige Anpassungen der äußeren Ordnung an
gesellschaftliche und geistige Veränderungen.
Es handelt sich für Oakeshott wohlgemerkt nicht um eine bestimmte politische
Position oder Richtung, sondern um einen inhaltlich offenen Stil politischen
Denkens und Handelns. Er prangert deshalb zu Recht die Begierde an, regieren zu
wollen oder jedes Parteiprogramm im Hinblick auf potentielle Wählerstimmen in
der Sprache der absoluten Zuversicht abzufassen. Im Gegenteil. Er fordert das
Lebensrecht der von ihm beschriebenen politischen Philosophie ein und stellt
damit ein britisches Äquivalent zum deutschen Politikwissenschaftler und
Initiator einer deutschen "Philosophie der Selbstbehauptung" (zuletzt
2007) Bernard Willms dar. Beide nämlich warnten davor zu ignorieren, daß Leben
immer Negation bedeuten kann, entgegen menschlicher Zuversicht verlaufen kann
und geistiger Selbstbehauptung bedarf.
Es geht bei Oakeshott also um eine politische Skepsis gepaart mit denkender
Tatkraft. Die Lebensführung des Menschen erfordere es damit auch nicht wie mit
Marx (10. Feuerbachthese), die Welt zu verändern. Vielmehr sei es - eben viel
bescheidener - nötig, allein unser eigenes Verständnis der Welt, unsere
Auffassungen zu verändern und zu hinterfragen. Dabei ist dem Philosophen alles
Wissen ohne Tabus bedeutsam. Es gibt keine strategische oder ideologische
Ausgrenzung von Fakten oder Begriffen, sondern es wird integral gedacht und
erwägt. Philosophie ist nach Oakeshott die Erfahrung selbst, die der
Betrachtung der Modi menschlicher Seinsweisen offen steht, d.h. konkrete
Situationen und nicht durch Bedürfnisse und Gesinnungen reduzierte
Halbwahrheiten betrachtet. Oakeshott selbst lebte auch nach seinen Maximen: Er
befreite sich gleichsam in der Manier eines Dandys von jedem praktischen
Interesse und vertrat eine Wissenschaft jenseits staatlich alimentierter Profit-
und Prestigemaximierung, jenseits medial abverlangten Begriffschrotts.
Kinzel malt das Bild eines Philosophen, der "Ja" sagt zur Welt, wie
wir sie vorfinden und sich nicht der Hybris einer vermeintlichen Abschaffung
aller Übel preisgibt. Das Leben ist ein Dilemma und als Aufgabe soll es dies
auch bleiben. Jegliche politische Absicht und parteipolitische Beeinflussung
beinhaltet schon immer eine gefährliche Reduzierung, eine Vereinfachung des
Lebens als komplexes Geschehen. Damit bleibt Politik als Tagesgeschäft
notwendig mittelmäßig und defizitär, weswegen der politische Philosoph seinen
eigenen Weg gehen muß. Philosophie ist aber gerade deshalb keine
weltentfremdete Flucht vor der Realität, sondern die realistische
Instandsetzung des Konkreten. Kinzel meint: "Der Idealismus, wie ihn
Oakeshott versteht, wie ihn aber auch die deutsche philosophische Tradition
verstanden hat, ist deshalb eine Form des konkreten Denkens." (66)
Vortrefflich ergibt sich bei aufmerksamer Lektüre anhand der Philosophie
Oakeshotts ein Bild, das aufzeigt, wie es möglich ist, philosophisch
konservativ zu sein und trotzdem ganzheitlich zu denken, Hegel zu mögen, in die
Zukunft zu denken und trotzdem eine auf das Hier und Jetzt bezogene Haltung an
den Tag zu legen. Hilfreich ist dabei auch, daß abschließend die Elemente
eines modernen Konservatismus beschrieben werden: Das Vertraute dem Unbekannten
vorziehen, das Gegenwärtige dem Möglichen, das Ausreichende dem
Überflüssigen. Zugleich aber betrachtet der Konservative als bescheidener
Mensch nach Oakeshott den Glauben an die Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen
als Flucht vor der Komplexität. Er setzt ihr eine Skepsis entgegen, die sich
gerade aufgrund ihrer Bescheidenheit für keine Macht einspannen läßt.
In Zeiten der politischen Machtkonzentration, des Verschwindens vermittelnder
Gewalten, des Ausbaus eines weit verzweigten Exekutiv-Apparates mitsamt seiner
Ministerialbürokratie, der Nutzung neuester Techniken zur Kontrolle und
Überwachung sowie in Zeiten ausgeprägten medialen Stumpfsinns sollte eine
"Politik der Skepsis" und die "kluge Bescheidenheit" ein
wichtiges Projekt des deutschen Konservativen bleiben, denn: "Alles Leben
ist notwendigerweise unvollkommen; es ist voller Möglichkeiten, doch karg an
Gewissheiten." (Oakeshott)
Fazit
Auch zehn Jahre nach seinem Tod bietet das vorliegende Buch über Michael
Oakeshott eine geeignete Einführung mitsamt zahlreicher Anstöße und Bezüge
zur Gegenwart.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
[Profil]
veröffentlicht am 14. Dezember 2007 2007-12-14 11:36:13