Ardistan und Dschinnistan gehört nach Stoff, Form und Gehalt dem Alterswerk
Karl Mays an, welches seit der Jahrhundertwende den Autor bemüht zeigt, sein
Schaffen in eine literarisch höhere Geistesebene zu transferieren, als er sie
bis dahin mit seinen phantasievoll-fiktiven und sehr publikumswirksamen
"Reiseerzählungen" innegehabt hatte. Es ist die Periode seiner
sogenannten "symbolischen" Werke, in denen er die von ihm gegen seine
erbitterten Kritiker behauptete tiefere Bedeutung und Gleichnishaftigkeit seiner
Abenteuergeschichten in einem bewußt neuen Stil, nämlich durch Allegorisierung
und Chiffrierung der Handlung, zu zeigen versuchte. Wenn in Karl Mays
klassischen Reiseerzählungen die Fiktion wirklicher Reisen erzielt wurde, in
dem die Handlung anschaulich und den realen Details getreu in geographische und
kulturelle Schauplätze eingefügt wurde, in Wahrheit aber dennoch
Phantasieprodukte Karl Mays gewesen sind, so hat Karl May diesmal den
stofflichen Realitätsbezug ganz aufgegeben und auch die "Geographie"
seiner "REise nach Art eines Mythos erfunden.
"Sitara", das "Land der Sternenblumen" - und Dschinnistan,
aber auch Ardistan, sind in einem mythenhaften Nyrgendwo gelegen. Diese Länder,
all die Volksstämme und Fürsten, Städte, Gebirge, Flüsse und Wüsten, mit
denen May auf über 1200 Druckseiten sein Utopia angefüllt hat, sind
ausschließlich Gehirnphänomene ihres Schöpfers. Aus den "alten"
Abenteuerromanen wurden lediglich Kara Ben Nemsi, der Ich-Erzähler, und Hadschi
Halef Omar, sein langjähriger Begleiter übernommen. Aus früheren Bänden
tauchen noch die gütige Charismatikerin und Herrin von Sitara, Marah Durimeh
und eine Nebenfigur früherer Bände, Schakara, auf. Zum Sprung in solchen
Surrealismus des Erzählstoffes soll sich May - nach Angaben des
Karl-May-Handbuches, auf welches ich mich hier stütze, auf NIetzsches
"Zarathustra" ebenso gestützt haben wie auf die Insel Utopia des
Thomas Morus oder Dantes "Göttliche Komödie".
Inhaltlich geht es bei den Bänden im Wesentlichen um folgendes:
Kara Ben Nemsi und sein Diener und Freu Handschi Halef Omar sind mit dem Schiff
"Wilahde" (=Geburt) in Sitara gelandet und besuchen ihre frühere
Bekannte Marah Durimeh, die Sultanin dieses "Landes der Sternblumen".
Ihr Herrschaftsbereich umfaßt zwei Teilreiche: Ardistan, das Land der großen
Ebenen und Wüsten, und Dschinnistan, das Land der lichten Höhen. Ardistan ist
zugleich das Reich der Gewaltmenschen, Dschinnistan das Reich der
Edelmenschen.
Zu Beginn der Erzählung erfrährt Marah Durimeh, dass ein Krieg zwischen
Ardistan und Dschinnistan ausgebrochen ist. Sie sendet daher Kara Ben Nemsi und
Hadschi Halef Omar als ihre Gesandten zu dem Mir von Ardistan (Ard=Erde), um
einen Frieden zwischen beiden Reichen zu vermitteln. Ardistans Herrscher gilt
als böser Tyrann, ein "Gewaltmensch", der sein Volk unterjocht und
peinigt, ihm die Menschenrechte vorenthält und seine Grenzen militärisch
bewacht, dass niemand aus seinem Reich entkommen kann.
Kara Ben Nemsi soll nun zu ihm gehen, um ihm ins Gewissen zu reden, dass er
Frieden schließen und ebenfalls - wie in Dschinnistan - in Ardistan die
Menschen in Güte und Gerechtigkeit regieren möge.
Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar kommen bei ihrer Reise zuerst zu dem Stamm
der Ussul, der rein körperlichen Riesen, die sie durch gewohnte List besiegen.
Dann kommen sie sie durch das Land der Tschoban, bis sie in die Hauptstadt Ard
von Ardistan gelangen. Dort hat der Mir von Ardistan seine REsidenz. Genau zum
Zeitpunkt ihrer Ankunft ist dort eine Verschwörung ausgebrochen. Der
"Panther", ein böser Prinz, will selber zur Herrschaft gelangen und
trachtet dem Mir von Ardistan nach dem Leben. Auch das Volk hat sich gegen den
bisherigen Herrscher erhoben und nur die Christen, die als die Verachteten im
Lande galten, sind bislang loyal geblieben. Der Mir wird vom Panther, den er
für seinen Freund gehalten hat, in die "Stadt der Toten" (vermutlich
der "Messingstadt" aus 1001 Nacht nachempfunden) gelockt. Diese
befindet sich mitten in der Wüste. Dort soll der Mir von Ardistan elend
verschmachten. Doch Kara Ben Nemsi, der Held, dessen von Marah Durimeh erteilter
Auftrag ist, den Mir zur Einsicht zu bringen, sein Land gerechter zu regieren,
macht sich mit Hadschi Halef Omar auf, ihn aus seiner GEfangenschaft zu
befreien.
In der "Stadt der Toten" und unter dem Leiden der Gefangenschaft hat
der Mir mittlerweile seine Fehler erkannt und bereut. Der geistige Einfluß Kara
Ben Nemsis, der ihn aus Todesgefahr errettet hat, trägt weiter dazu bei, ihn in
einen neuen, besseren Menschen zu verwandeln.Zur Umkehr des Mir von Ardistan
trägt die Dschemma der Lebenden und der Toten bei. Dabei handelt es sich um
eine unterirdische Gerichtsverhandlung. Richte ist ein alter Maha-Lama,
Angeklagte sind alle Emire von Ardistan. Die Gerichtsverhandlung wiederholt sich
im Verlauf der Jahrhunderte immer neu. In der Dschemma der Toten sitzen sie als
Statuen bzw. Mumien; in der Dschemma der Lebenden aber wird real Gericht
gehalten über die Emire. Dieser jahrhundertelange Kreislauf von
Gerichtssitzungen kann nur aufgehoben werden durch die Bereitschaft eines Mirs
von Ardistan, die Sünden seiner Väter auf sich zu nehmen. So geschieht es: Der
jetzige Mir von Ardistan tritt in der Dschemma der Lebenden als Angeklagter auf.
Mitangeklagt sind sein Vater und sein Großvater. Richter ist Abu Schalem, der
weiseste aller Maha-Lamas, als Beisitzer sind Kara Ben Nemsi und seine Begleiter
geladen. Nun ereignet sich das, was seit Jahrhunderten erwartet wurde, sich aber
nie ereignet hat. Der Mir nimmt die Schuld aller seiner Väter und Ahnen auf
sich und wird daher von dieser Schuld erlöst. Mit der Aufforderung an den Mir,
fortan nur noch dem Frieden zu dienen, schließt Abu Schalem die Sitzung und
begibt sich wieder in die Dschemma der Toten, um erneut zur unbeweglichen Statue
zu werden. Der May-Forscher Christoph F. Lorenz hat nachgewiesen, dass diese
"Stadt der Toten" auf die "Messingstadt" in den Märchen aus
"Tausendundeiner Nacht" angeregt worden sind. So kann er - nachdem er
in der "Dschemma der Lebenden und der Toten" gebeichtet und bereut
hat, ein besserer Mensch werden, mit Hilfe Kara Ben Nemsis und Hadschi Halef
Omars den "Panther besiegen und wieder in seine Herrscherwürde eingesetzt
werden. Aus einem finsteren Gewaltherrscher ist nun ein edel und in
Gerechtigkeit regierender Friedensfürst geworden.
Das Buch besticht durch symbolische Orte und Landschaften, wie die
"Dschemma der Lebenden und der Toten", den "Maha-Lama-See"
und anderer Stätten sowie die Botschaft, die 1909 erfolgte - also fünf Jahre
vor dem Ausbruch des ersten Weltkrieges. Nicht umsonst verehrte Berta von
Suttner Karl May.
Die Urfassung - die Zeitschriftenfassung des Romans - ist soeben als
historisch-kritische Ausgabe im Karl-May-Verlag in Bamberg unter Federführung
des in diesem Jahr verstorbenen May-Biographen Hans Wollschläger erneut
erschienen und - trotz gewisser - zeitbedinger - "moralinsaurer"
Elemente wie übermäßige Betonung von Heldentum, Heraushebung des Christentums
gegenüber anderen Religionen, dennoch ein grandioser Fantasy-Roman und meines
Erachtens auch heute wieder aktuell.
Fazit
Ich lese ihn gerade erneut und bin erneut fasziniert - insbesondere vom zweiten
Teil. Die Buchfassung ist normal im Karl-May-Verlag als Bände 31 und 32 der
Gesammelten Werke erschienen. Sehr lesenswert!
Vorgeschlagen von Bernhard Nowak
[Profil]
veröffentlicht am 11. Dezember 2007 2007-12-11 21:19:45