Auch Semiotik und Literaturwissenschaft sind mit dem Problem beschäftigt,
Theorien zur Erklärung von Prozessen und zur Entstehung von Neuem zu
entwickeln. Das klassische dualistische Erkenntnismodell hat sich in dieser
Hinsicht als unzulänglich erwiesen. Nina Ort entwickelt nun einen Vorschlag,
dieses um ein umfassenderes dreiwertiges Modell zu ergänzen, das eine
angemessenere Darstellung von Prozessualität erlaube. Sie entfaltet dieses
durch die nicht einfach zu absolvierende Kombination der
"nicht-aristotelischen Logik" von Gotthard Günther mit der Semiotik
von Charles S. Peirce zu einer reflexionslogischen Semiotik.
Mit diesem Entwurf einer reflexionslogischen Semiotik im Ausgang von Günther
und Peirce wird eine Methode angeboten, die auf die verwickelte erkenntnis- und
wissenschaftstheoretische Situation in den Geisteswissenschaften insgesamt
reagiert. Zum einen wird mit ihr ein System entwickelt, das auf einem formal
geschlossenen, nicht-klassischen Erkenntnismodell basiert. Zum anderen ist damit
ein Modell entstanden, mit dem die Prozessualität und Operationalität der
Peirceschen Semiotik nicht nur konstatiert, sondern zugegebenermaßen logisch
begründet wird. Diese reflexionslogische Semiotik möchte deshalb die seit
langem drängenden Fragen nach der Modellierung prozessualer, evoluierender und
lebendiger Systeme beantworten.
In einem literaturanalytischen Teil wird sogar an ausgewählten Texten Kafkas
nachgewiesen, daß hier Erzählstrategien entwickelt werden, die aus einer
klassischen Perspektive nur als diffus, unerklärbar oder paradox bezeichnet
werden können. Erst eine reflexionslogische Interpretation könne zeigen, daß
und wie es in "Josefine", "Die Sängerin" oder das
"Volk der Mäuse" und im "Urteil" um die Kreation von etwas
jenseits der klassischen Realitätsthematiken von Sein und Reflexion geht.
Daß es die Autorin fertigbringt, ihr Thema ohne Erwähnung der bisher
zweibändigen "Reflexionstheoretischen Semiotik. Teil 1
Handlungstheorie" (Bouvier, Bonn, 1980) sowie "Reflexionstheoretische
Semiotik. Teil 2 Sprachtheorie" (Bouvier, Bonn, 1981) von Johannes
Heinrichs abzuhandeln, ist schon eine beachtliche und erstaunliche Leistung! Vor
allen Dingen ist die Semiotik Teil 1 soeben sogar neu bearbeitet erschienen als
"Handlungen" (Steno, München, 2007) und wurde bei webcritics.de
ausgiebig rezensiert. Diese Leistung praktizierter - ob bewußter oder
unbewußter - Ignoranz wird ermöglicht durch die derzeitige Lage des so
genannten Diskurses in Deutschland, die Heinrichs in seinem offenen Brief an
Jürgen Habermas in "Handlungen" detailliert anprangert.
Für eine nähere inhaltliche Würdigung sollte sich Heinrichs, trotz seiner
Nicht-Existenz für die Autorin, vielleicht nicht zu schade sein. Er ist Kenner
von Gotthard Günther und hat ihn noch persönlich kennengelernt. Davon zeugt
das bei webcritics.de besprochene und Günther gewidmete Buch "Logik des
Sozialen" (Steno, München, 2005). Es ist eine Neubearbeitung von
"Reflexion als soziales System" (Bouvier, Bonn, 1976). Auch mit Peirce
hat Heinrichs sich recht ausführlich befaßt, wenngleich in kritischerer Form
als mit Günther: Dazu sei dringend das Kapitel "Kritik der Triaden"
in seinem bei webcritics.de bereits besprochenen Kant-Buch "Die Logik der
Vernunftkritik" (UTB, Tübingen, 1986) empfohlen, welches neu bearbeitet
als "Das Geheimnis der Kategorienlehre" (Maas, Berlin, 2004) erschien.
Fazit
Man darf also gespannt sein, ob und wie der für Nina Ort Nicht-Existente zu
diesem erstaunlichen Produkt des Ignorierens sachlich näher Stellung nimmt.
Aller weiteren Stellungnahme vorweg muß man wohl erst einmal feststellen, daß
es sich hier um einen mehr oder minder leichten wissenschaftlichen Skandal
handelt.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
[Profil]
veröffentlicht am 10. Dezember 2007 2007-12-10 12:47:48