Es kommt in der Wissenschaft immer darauf an, die richtigen und interessanten
Fragen zu formulieren, deren Aufstellen bereits oft die halbe Antwort ist.
Philosophen haben da den Bogen raus, stellen diese doch jegliche Fragen in
Gänze und ohne Voreingenommenheit, weil ihnen - wenn sie an der Sache selbst
und nicht an Stellung, Prämie und Vorteil interessiert sind - die Antwort das
Elixier des Lebens darstellt.
Der Autor Manfred Spitzer stellt sich im vorliegenden Buch aus der Sicht der
Gehirnforschung die eigentlichen philosophischen Fragen: "Was ist
Sein?" oder "Was kann man wissen?", um schließlich im Sinne des
sokratischen Wesenswissens der Philosophie zu dem Schluß zu gelangen, daß man
auch in der Hirnforschung von vielen Aspekten eines Prozesses, einer Funktion
oder eines Phänomens absehen muß, um zu allgemeinen Wesensprinzipien zu
gelangen. Hirnforschung ist also tendenziell reduktionistisch - aber ergiebig,
wenn man sie mit den Ansprüchen des wahren Philosophen kombiniert und
überschaubare, reine und ehrliche Horizonte absteckt, die zugleich
Spekulationen und Gesinnungen begrenzen, ja man muß sagen des Gehirns
verweisen.
Manfred Spitzer ist leitender ärztlicher Direktor der psychiatrischen
Universitätsklinik in Ulm und Leiter des Transferzentrums für
Neurowissenschaften und Lernen. Er wendet seine direkt in den ersten Kapiteln
entworfene Betrachtungsmethode sogleich an und stellt sich wichtige Fragen: Was
hat ein Börsencrash mit unserem Gehirn zu tun? Wie lernt ein Kind im
Mutterleib? Wie kann man herausfinden, was Babys denken und wahrnehmen? Was
lernen wir schon im Mutterleib? Warum werden Menschen eigentlich so alt? Wovon
träumen Ratten? Was bringt uns das Human Genome Project? Wie treffen wir
moralische Entscheidungen? Was geht im Gehirn vor sich, wenn wir Schokolade
essen? Natürlich bleiben die Antworten auf diese gezielten Fragen nicht aus. Er
beantwortet sie immer mit Bezug auf die neuesten Erkenntnisse der
Neurowissenschaften und immer ehrlich, gleichsam seinem Anspruch gemäß
philosophisch mit Witz und Konsequenz.
Die Texte in diesem Buch stellen eine Auswahl von Spitzers Arbeiten aus der
Zeitschrift "Nervenheilkunde" dar und sind in elf Kapiteln geordnet,
u.a. Geschichten, Entwicklung, Emotionen, Schlafen und Träumen, Neurobiologie
und Gesellschaft, Evolution. Kürzlich erschienene und nach Inhalt rubrizierte
Literaturangaben zum Thema runden dieses Werk ab, das letztendlich - und so
wünscht es sich der Autor - nur zum Appetit anregen soll. "Es handelt sich
also nicht wirklich um geistige Nahrung, sondern, (...), um eine Art Ansammlung
von Appetizern." Spitzers Appetizer treten dabei durchaus auf als eine Art
Gratwanderung zwischen populärwissenschaftlicher Informationsflut und ernster
Neurowissenschaft, die anschaulich dargestellt wird und gesellschaftliche
Schlussfolgerungen konsequent artikuliert.
Und so verwundert es nicht, wenn der Autor im letzten Kapitel zur
"Evolution" in Anlehnung an den Philosophen Martin Heidegger meint,
dieser sei auch seinem Prinzip treu geblieben, sein Hauptwerk "Sein und
Zeit" (1927) nicht zu Ende geschrieben zu haben, da die fehlenden
Abschnitte größeren Effekt als ein vollendetes Buch hätten, indem sie zum
Selbstdenken anregten. Ebenso könnte man meinen, daß es also gerade die
Stärke Spitzers ist, wissenschaftlichen "Populismus" mit
neurowissenschaftlicher Ernsthaftigkeit zu verknüpfen, um viele Leser zu
gewinnen. Trotz des Umfanges ist das Buch gerade dadurch gut lesbar und
lesenswert - so wie alle einzelnen enthaltenen Geschichten. Die Rechnung des
Autors, orientiert an der Rechnung des Philosophen, geht auf und führt den
Leser auf den Grund der Dinge.
Auch der Philosoph Heidegger, der zwar nicht wie im Buch abgedruckt 1989 bis
1976, also rückwärts, lebte, sondern von 1889 bis 1976, ging für Spitzer den
Dingen auf den Grund und wer weiß, vielleicht leben ja einige Philosophen -
rein gedanklich - wirklich rückwärts, um den Dingen auf den Grund zu gehen.
Schade nur, daß Spitzer Heidegger zur Frage des "Seins" nicht
zitiert, denn auch dort findet sich wohl ernst Gemeintes, aber zunächst seltsam
Anmutendes - freilich nur, wenn man die philosophische Sachebene bewußt
verläßt. Heidegger schreibt nämlich zur Seinsverfassung des Daseins, welche
er "In-Sein" nennt: "In-Sein ist demnach der formale existenziale
Ausdruck des Seins des Daseins, des die wesenhafte Verfassung des
In-der-Welt-seins hat." (Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen, 2001,
S. 54) Das klingt für Außenstehende amüsant, ist aber zutiefst existenziell
gemeint.
Gerade Fragen nach dem Wesen von etwas liegen also außerhalb der
Naturwissenschaft und sind besser verständlich, wenn man sich sowohl der
ernsten Frage als auch ihrem humorvollen Gehalt öffnet. Hier beginnt die
Leistung des Gehirns und Bewußtseins. Spitzer spitzt in typischer Manier zu:
Warum also ist Chili dann scharf? - Die Antwort muß man lesen!
Fazit
Denn das vorliegende Buch eröffnet Perspektiven, denen trotz ihrer humorvollen
Präsentation ein heuristischer Wert innewohnt, der nicht zum Glaubeninhalt
degeneriert, sondern zum weiterdenken gemahnt.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 27. November 2007 2007-11-27 10:28:39