Walter Benjamin gehört zu den zentralen Autoren des 20. Jahrhunderts in
Deutschland. Ob Wissenschaft, Literatur, Philosophie oder Kunst - seine
eigenwilligen und unkonventionellen Schriften, seine unzeitgemäßen und mutigen
Betrachtungen, welche oft auf Widerstand selbst seiner Freunde stießen, sind
ein unablässiges Nachdenken über seine großstädtische, seine Berliner
Herkunft. Sie sind Ausdruck eines Denkens darüber, wie man sich im Labyrinth
des Lebens und beständig wechselnder Eindrücke zurechtfinden kann. Das
Spezifische seiner Philosophie, das kämpfende und suchende Dasein des
Einzelnen, der dem Wesentlichen gegenüber dem Unwesentlichen zu dienen gedenkt,
äußerte sich schon im autobiographischen Buch "Berliner Kindheit um
Neunzehnhundert" (1950).
Bei der Reihe "Suhrkamp BasisBiographien" ist jetzt eine kurze aber
dezidiert informative Biographie zu Benjamin erschienen, welche den
Facettenreichtum konventioneller Biographien mit der Übersichtlichkeit eines
Werklexikons verbindet. Entstanden ist ein umfassendes Porträt, das über die
Mittel von Zeittafel, Personen- und Werkregister sowie über eine kommentierte
Auswahlbibliographie völlig neue Einzelheiten des Denkens bei Benjamin
darstellt, um damit gleichsam eine neue Dimension der Betrachtung dieses
Philosophen zu eröffnen. Diese Dimension besteht Buch darin, Benjamin eben
nicht im Sinne des bisher kultivierten Bildes zu beschreiben, wonach ein armer
Intellektueller auf der Flucht vor den Nationalsozialisten schließlich von
denselben an der spanischen Grenze in den Suizid getrieben wurde. Im Gegenteil,
Benjamin scheint ganz speziell als charakteristischer Vertreter der deutschen
Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts auf, der umfassenden Kontakt zu Stefan
George, Carl Schmitt, Berthold Brecht und anderen pflegte, wobei seine Existenz
bereits früher den Hang zur Lebensflucht, zum glücklichen Nichtsein hatte und
aufgrund innerer Zerrissenheit den Suizid schon oft erwog.
Der Autor stellt dar, daß Benjamins Anfänge des Schreibens und seine ersten
publizistischen Gehversuche oft mit Enttäuschungen endeten. Das gemeinsame
intellektuelle Interesse führte ihn recht früh zum George-Kreis in Heidelberg
und zwar über seinen Freund Karl Wolfskehl. Dabei waren Benjamins plagende
Motive seines Handelns oft die ausgeprägte Unstetigkeit des ewigen Suchens nach
Heimat, finanziellem Auskommen und intellektueller Verwirklichung. Er war der
Nomade unter den Denkern seiner Zeit, der gerade dadurch in der deutschen
Geistesgeschichte Zuflucht fand und viele Publikationen selbst Ernst Jüngers im
Auge behielt und rezensierte. Brodersen betont im Gegenzug, daß Benjamins
redaktionelle Mitarbeit bei der "Zeitschrift für Sozialforschung" ihn
selbst dort in Frankfurt, bei seinen späteren Herausgebern, namentlich Adorno,
nicht heimisch werden ließ. Benjamins Drang nach Ruhe und Sicherheit scheint
kurz vor seinem Suizid als ein Faktor auf, der nicht nur Ergebnis der
Bedrängung durch den Nationalsozialismus war, sondern vor allem Ergebnis
innerer Unstetigkeit und enttäuschten Ehrgeizes. Und so verwundert es nicht,
daß Benjamin sich einem Geistesgenossen zuwandte, der seinerzeit ähnlich litt
und an den politischen und geistigen Verhältnissen seiner Zeit zerbrach -
Friedrich Hölderlin.
Ihm widmete Benjamin, inspiriert durch die Vorträge Norbert von Hellingraths,
selbst eine wichtige Schrift. Norbert von Hellingrath sprach am 27. Februar zum
Thema "Friedrich Hölderlin und die Deutschen". Ein zweiter Vortrag,
"Über Hölderlins Wahnsinn", folgte eine Woche später. Hellingraths
hinreißende Worte über Hölderlin beeindruckten auch Benjamin. Es ist klar,
daß er am Tod als Motiv in Hölderlins Dichtung, am Tod im übertragenen Sinn
als Umnachtung des Dichters Interesse hatte. Er hat nachfolgend als einer der
Ersten eine eingehende Analyse zu einem einzelnen Gedicht, nämlich
"Dichtermut", hinterlassen.
Dabei übernimmt er ausdrücklich das Vokabular des Hölderlin-Herausgebers
Hellingrath ("innere Form"/"das Gedichtete"). Mit
Hellingrath teilte Benjamin die neue Hinwendung zu einer philosophischen Kritik
und zu einer ästhetischen Herangehensweise. Er schrieb: "Das Gedichtete
ist in seiner allgemeinen Form synthetische Einheit der geistigen und
anschaulichen Ordnung." Werk und Interpretation treten - typisch für die
deutsche Geistesgeschichte - in ein dialektisches Verhältnis. Die Dichtung
besitzt dabei eine historisch-politische Relevanz, worauf heute wieder der
Sozialphilosoph Johannes Heinrichs hinweist, wenn er über Hölderlin schreibt,
"dass das Thema Deutschland weder durch die damalige Restauration noch
durch die obrigkeitsstaatlichen Verbrechen 1848 und Anmaßungen im zweiten
Kaiserreich noch durch 12 Jahre purer Barbarei noch durch die europäischen
Perspektiven erledigt ist. In Jahrtausenden gewachsene Kulturnationen sind keine
Eintagsfliegen wie politische Parteien oder internationale Bündnisse."
(Johannes Heinrichs, Revolution aus Geist und Liebe, Steno-Verlag, 2007)
Das terminologisches Gepäck des George-Kreises, so der Begriff
"Aura", findet sich vor allem in Benjamins Betrachtung zum
"Kunstwerk" wieder. In den Kunstwerken sieht er Wahrheitsgehalt und
Sachgehalt miteinander verbunden. Er sieht in ihnen den verorteten Moment
künstlerischer Entfaltung des Einzelnen im Jetzt und Hier. Benjamin versteht
diesen Prozeß als "Aura" von Kultwerten in der Kunst und konstatiert
analog zur Tendenz der Standardisierung von Haltungen, Meinungen und Moden einen
fortschreitenden Verfall des Auratischen. Brodersen deutet damit in seiner
Biographie zum Werk Benjamins an, daß sich dieser durchaus bewußt war, wie in
der Postmoderne die transzendentale Apperzeptionskraft schwindet, und an die
Stelle der Erfahrung des Einzelnen die Information tritt, die erstarrte
Statistik.
Diese Biographie zeigt wie keine andere, warum, wie und mit welcher Konsequenz
Walter Benjamin alle geistigen Strömungen seiner Zeit auf sich vereinte und wie
er sie verarbeitete. Der Autor dieser Biographie zeichnet damit eben nicht das
Bild eines bemitleidenswerten Denkers auf der Flucht vor deutscher Barbarei,
sondern gerade das eines zutiefst in der deutschen Geistesgeschichte seiner Zeit
verwurzelten Deutschen, der im Nationalsozialismus nicht die Verwirklichung des
deutschen Denkens sah - sicherlich auch Ausdruck des George-Diktums vom
"Geheimen Deutschland". Und so betonte Benjamin selbst, was er unter
wahrem deutschen Humanismus verstand: "Vernunft, Nüchternheit,
Transparenz, Unbestechlichkeit, Untadeligkeit, Unbeugsamkeit, Forschungsgeist,
Teilnahme, Freimut, geistige Unabhängigkeit, Treue, Fürsorge, Freundschaft,
Solidarität und vor allem Liebe". Er hat vor diesem Hintergrund mit den
Gründervätern seines Denkens, vor allem mit Hölderlin, nie gebrochen, sondern
ging gerade ihren Weg, nämlich den des Vereinzelten, Suchenden und dennoch
seinen Überzeugungen treu Bleibenden - bis in den Tod hinein. Das vorliegende
Buch, welches entsprechend eine neue Perspektive freigibt, betont, daß deshalb
Benjamins Frankfurter Herausgeber der Nachkriegszeit nicht vor politisch
motivierten Eingriffen zurückschreckten, beispielsweise als Adorno eine Ernst
Jünger-Rezension Benjamins manipulierte oder die Briefe zu Carl Schmitt kürzte
bzw. ignorierte. Brodersen spricht von einer "Zensur aus politischen
Gründen.
Fazit
All jene Aspekte machen diese Biographie spannend. Sie nimmt damit selbst
Benjamins Denken ernst. Dessen Quintessenz war es nämlich, sich zeitlebens
keine ideologischen, methodischen oder theoretischen Fesseln anzulegen. Dies ist
womöglich die Maxime einer neuen Benjamin-Rezeption der Gegenwart.
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
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veröffentlicht am 25. November 2007 2007-11-25 11:48:54