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Momme Brodersen: Walter Benjamin

Walter Benjamin

von Momme Brodersen
Verlag: Suhrkamp Verlag [mehr Bücher von diesem Verlag zeigen]
Sparte: Biografie
ISBN-13 978-3-518-18204-8

Preis: 7,90 Euro bei Amazon.de [Stand: 22. Dezember 2024]
Walter Benjamin gehört zu den zentralen Autoren des 20. Jahrhunderts in Deutschland. Ob Wissenschaft, Literatur, Philosophie oder Kunst - seine eigenwilligen und unkonventionellen Schriften, seine unzeitgemäßen und mutigen Betrachtungen, welche oft auf Widerstand selbst seiner Freunde stießen, sind ein unablässiges Nachdenken über seine großstädtische, seine Berliner Herkunft. Sie sind Ausdruck eines Denkens darüber, wie man sich im Labyrinth des Lebens und beständig wechselnder Eindrücke zurechtfinden kann. Das Spezifische seiner Philosophie, das kämpfende und suchende Dasein des Einzelnen, der dem Wesentlichen gegenüber dem Unwesentlichen zu dienen gedenkt, äußerte sich schon im autobiographischen Buch "Berliner Kindheit um Neunzehnhundert" (1950).

Bei der Reihe "Suhrkamp BasisBiographien" ist jetzt eine kurze aber dezidiert informative Biographie zu Benjamin erschienen, welche den Facettenreichtum konventioneller Biographien mit der Übersichtlichkeit eines Werklexikons verbindet. Entstanden ist ein umfassendes Porträt, das über die Mittel von Zeittafel, Personen- und Werkregister sowie über eine kommentierte Auswahlbibliographie völlig neue Einzelheiten des Denkens bei Benjamin darstellt, um damit gleichsam eine neue Dimension der Betrachtung dieses Philosophen zu eröffnen. Diese Dimension besteht Buch darin, Benjamin eben nicht im Sinne des bisher kultivierten Bildes zu beschreiben, wonach ein armer Intellektueller auf der Flucht vor den Nationalsozialisten schließlich von denselben an der spanischen Grenze in den Suizid getrieben wurde. Im Gegenteil, Benjamin scheint ganz speziell als charakteristischer Vertreter der deutschen Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts auf, der umfassenden Kontakt zu Stefan George, Carl Schmitt, Berthold Brecht und anderen pflegte, wobei seine Existenz bereits früher den Hang zur Lebensflucht, zum glücklichen Nichtsein hatte und aufgrund innerer Zerrissenheit den Suizid schon oft erwog.

Der Autor stellt dar, daß Benjamins Anfänge des Schreibens und seine ersten publizistischen Gehversuche oft mit Enttäuschungen endeten. Das gemeinsame intellektuelle Interesse führte ihn recht früh zum George-Kreis in Heidelberg und zwar über seinen Freund Karl Wolfskehl. Dabei waren Benjamins plagende Motive seines Handelns oft die ausgeprägte Unstetigkeit des ewigen Suchens nach Heimat, finanziellem Auskommen und intellektueller Verwirklichung. Er war der Nomade unter den Denkern seiner Zeit, der gerade dadurch in der deutschen Geistesgeschichte Zuflucht fand und viele Publikationen selbst Ernst Jüngers im Auge behielt und rezensierte. Brodersen betont im Gegenzug, daß Benjamins redaktionelle Mitarbeit bei der "Zeitschrift für Sozialforschung" ihn selbst dort in Frankfurt, bei seinen späteren Herausgebern, namentlich Adorno, nicht heimisch werden ließ. Benjamins Drang nach Ruhe und Sicherheit scheint kurz vor seinem Suizid als ein Faktor auf, der nicht nur Ergebnis der Bedrängung durch den Nationalsozialismus war, sondern vor allem Ergebnis innerer Unstetigkeit und enttäuschten Ehrgeizes. Und so verwundert es nicht, daß Benjamin sich einem Geistesgenossen zuwandte, der seinerzeit ähnlich litt und an den politischen und geistigen Verhältnissen seiner Zeit zerbrach - Friedrich Hölderlin.

Ihm widmete Benjamin, inspiriert durch die Vorträge Norbert von Hellingraths, selbst eine wichtige Schrift. Norbert von Hellingrath sprach am 27. Februar zum Thema "Friedrich Hölderlin und die Deutschen". Ein zweiter Vortrag, "Über Hölderlins Wahnsinn", folgte eine Woche später. Hellingraths hinreißende Worte über Hölderlin beeindruckten auch Benjamin. Es ist klar, daß er am Tod als Motiv in Hölderlins Dichtung, am Tod im übertragenen Sinn als Umnachtung des Dichters Interesse hatte. Er hat nachfolgend als einer der Ersten eine eingehende Analyse zu einem einzelnen Gedicht, nämlich "Dichtermut", hinterlassen.

Dabei übernimmt er ausdrücklich das Vokabular des Hölderlin-Herausgebers Hellingrath ("innere Form"/"das Gedichtete"). Mit Hellingrath teilte Benjamin die neue Hinwendung zu einer philosophischen Kritik und zu einer ästhetischen Herangehensweise. Er schrieb: "Das Gedichtete ist in seiner allgemeinen Form synthetische Einheit der geistigen und anschaulichen Ordnung." Werk und Interpretation treten - typisch für die deutsche Geistesgeschichte - in ein dialektisches Verhältnis. Die Dichtung besitzt dabei eine historisch-politische Relevanz, worauf heute wieder der Sozialphilosoph Johannes Heinrichs hinweist, wenn er über Hölderlin schreibt, "dass das Thema Deutschland weder durch die damalige Restauration noch durch die obrigkeitsstaatlichen Verbrechen 1848 und Anmaßungen im zweiten Kaiserreich noch durch 12 Jahre purer Barbarei noch durch die europäischen Perspektiven erledigt ist. In Jahrtausenden gewachsene Kulturnationen sind keine Eintagsfliegen wie politische Parteien oder internationale Bündnisse." (Johannes Heinrichs, Revolution aus Geist und Liebe, Steno-Verlag, 2007)

Das terminologisches Gepäck des George-Kreises, so der Begriff "Aura", findet sich vor allem in Benjamins Betrachtung zum "Kunstwerk" wieder. In den Kunstwerken sieht er Wahrheitsgehalt und Sachgehalt miteinander verbunden. Er sieht in ihnen den verorteten Moment künstlerischer Entfaltung des Einzelnen im Jetzt und Hier. Benjamin versteht diesen Prozeß als "Aura" von Kultwerten in der Kunst und konstatiert analog zur Tendenz der Standardisierung von Haltungen, Meinungen und Moden einen fortschreitenden Verfall des Auratischen. Brodersen deutet damit in seiner Biographie zum Werk Benjamins an, daß sich dieser durchaus bewußt war, wie in der Postmoderne die transzendentale Apperzeptionskraft schwindet, und an die Stelle der Erfahrung des Einzelnen die Information tritt, die erstarrte Statistik.

Diese Biographie zeigt wie keine andere, warum, wie und mit welcher Konsequenz Walter Benjamin alle geistigen Strömungen seiner Zeit auf sich vereinte und wie er sie verarbeitete. Der Autor dieser Biographie zeichnet damit eben nicht das Bild eines bemitleidenswerten Denkers auf der Flucht vor deutscher Barbarei, sondern gerade das eines zutiefst in der deutschen Geistesgeschichte seiner Zeit verwurzelten Deutschen, der im Nationalsozialismus nicht die Verwirklichung des deutschen Denkens sah - sicherlich auch Ausdruck des George-Diktums vom "Geheimen Deutschland". Und so betonte Benjamin selbst, was er unter wahrem deutschen Humanismus verstand: "Vernunft, Nüchternheit, Transparenz, Unbestechlichkeit, Untadeligkeit, Unbeugsamkeit, Forschungsgeist, Teilnahme, Freimut, geistige Unabhängigkeit, Treue, Fürsorge, Freundschaft, Solidarität und vor allem Liebe". Er hat vor diesem Hintergrund mit den Gründervätern seines Denkens, vor allem mit Hölderlin, nie gebrochen, sondern ging gerade ihren Weg, nämlich den des Vereinzelten, Suchenden und dennoch seinen Überzeugungen treu Bleibenden - bis in den Tod hinein. Das vorliegende Buch, welches entsprechend eine neue Perspektive freigibt, betont, daß deshalb Benjamins Frankfurter Herausgeber der Nachkriegszeit nicht vor politisch motivierten Eingriffen zurückschreckten, beispielsweise als Adorno eine Ernst Jünger-Rezension Benjamins manipulierte oder die Briefe zu Carl Schmitt kürzte bzw. ignorierte. Brodersen spricht von einer "Zensur aus politischen Gründen.
Fazit
All jene Aspekte machen diese Biographie spannend. Sie nimmt damit selbst Benjamins Denken ernst. Dessen Quintessenz war es nämlich, sich zeitlebens keine ideologischen, methodischen oder theoretischen Fesseln anzulegen. Dies ist womöglich die Maxime einer neuen Benjamin-Rezeption der Gegenwart.
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Vorgeschlagen von Daniel Bigalke [Profil]
veröffentlicht am 25. November 2007

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