In den Literaturlexika der Gegenwart ist er mit keinem Wort erwähnt. Kein
Wunder, der Dichter Jesse Thoor brachte es seinerzeit nur auf eine Publikation.
Diese aber hat es in sich! Peter Karl Höfler oder Jesse Thoor, wie er sich
später nannte, wurde am 23. Januar 1905 in Berlin geboren und ist am 15. August
1952 in Lienz in Osttirol gestorben. Thoor, einer der großen Unbekannten der
deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, hat ein kleines Werk hinterlassen,
dessen Inhalt von der Konfrontation seines Autors mit Armut und Elend zugleich
die bestimmenden Motive seiner Dichtung vorgaben.
Thoor war immer ein unzugänglicherer Mensch, der die bäuerliche Gemeinschaft
bevorzugte und sich von der modernen Welt abkehrte. Ihm geht es in seinen
Gedichten um eine neue Ordnung, basierend auf Tradition, Religion und Heimat.
Freilich, diese Dichtung ist Essenz eines beispiellosen Lebens, geprägt von der
Flucht von einem Exil ins andere.
Bestimmend für sein Werk ist entsprechend die wachsende Sehnsucht nach einer
"Ästhetik des Humanen", ein Ziel, auf das er sich nach und nach
besann. Und so verwundert es nicht, daß der einstiger KPD-Parteigänger Thoor
vorher noch bei gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der SA oft ganz weit
vorn stand, sich später aber gerade aus eigener Erfahrung fortschreitend von
allem Parteihader distanzierte und begann, seine Sonette in der Zeitschrift
"Maß und Werte" abzudrucken. Die Gedichte von Jesse Thoor
repräsentieren einen unbekannten Lyriker, der gerade dadurch zum Geheimtipp
wird. Dem Suhrkamp-Verlag ist es zu verdanken, alle Gedichte und Sonette in
diesem zentralen und dennoch kleinen Bändchen zugänglich gemacht zu haben.
Das "wildschöne und traurige Leben" welches im Nachwort als
Grundstimmung Thoors beschrieben wird, ist zugleich dasjenige, welches der
Dichter täglich erfährt. In allen Gedichten schwingt es mit und fordert mehr
Sinn für das Heilige. Thoor, stets geplagt von Kopfschmerzen, warf der
Bourgeoisie vor, sie habe das Gefühl für das Sakrale verloren. So ehrte er
selbst das Brot abgöttisch, in dem er heilige Materie sah und sich gegen dessen
Vergeudung wo es nur ging aussprach - oftmals zum Missverständnis weniger
sensibeler Tischgenossen. Es waren also die kleinen beschaulichen aber umso
notwendigeren Dinge, die ihm Energie zu sein schienen: "O Vater, es wird
Nacht! Nun gib deinem Sohne und seinem Weibe Brot genug, und Wasser in den Krug,
den sie mir am Abend reicht. Und milde Träume - ehe der Tag wieder die Sterne
bleicht."
So steht er für die Wiederentdeckung des Individuums und für seine
Wiedereinwurzelung in naturverbundenes Leben. Dabei spielt aber bei Thoor, so
geben die vorliegenden Sonette kund, immer die Sehnsucht nach dem Einfachen und
dem Heiligen zugleich, die gelebte Ambivalenz, eine ungemeine Rolle. In
gleichsam hölderlinhafter Manier gebraucht Thoor dabei das Wort
"heilig", ähnlich wie auch der heutige Dichter Rolf Schilling den
ähnlichen Terminus "hold" zum leitenden Motiv seiner Gedichte macht.
1950 besucht Thoor nach seiner Emigration erstmals wieder Deutschland, stirbt
aber schon 1952 - kurz nach dem letzten Besuch in seiner Heimat. Die Verkettung
von Schweigen und Pathos in seinen Gedichten aber bleiben bis heute
unverwechselbar: "Da ruft einer und schreit: Hochherrliche Zeit! Ich bin
blank und bloß. Aber mein Engel ist groß. Ich bin arm und bleich. Aber mein
Engel ist reich."
Fazit
Lesenswert für Liebhaber außergewöhnlicher Lyrik!
Vorgeschlagen von Daniel Bigalke
[Profil]
veröffentlicht am 19. November 2007 2007-11-19 18:27:31